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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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liebte sie dafür. »Wirklich«, sagte er endlich, »Ihre Fantasie geht mit Ihnen durch. Ich bin einfach nur unbeholfen.«
    »Es ist sie, habe ich recht?«, sagte Ethel und war entschlossen zu sagen, was sie glaubte. »Sie tut Ihnen das alles an.«
    »Sie? Wer?«
    »Ihre Frau, Hawley. Dieser Drache, mit dem Sie verheiratet sind.«
    »Ethel, ich …«
    »Es tut mir leid, Hawley. Ich hasse es, solche Dinge zu sagen oder solche Worte zu benutzen, doch es lässt sich nicht anders ausdrücken. Ich habe gesehen, wie Ihre Frau Sie behandelt. Ich habe gehört, wie sie mit Ihnen spricht, und ich glaube nicht, dass das schon alles ist. Sie schlägt Sie, habe ich recht? Sie behandelt Sie nicht besser als irgendeinen Straßenköter. Und Sie lehnen sich zurück und lassen es mit sich machen.«
    »Ethel, so ist es nicht. Sie regt sich auf, sie …«
    »Sie regt sich auf?«,
rief Ethel, die sich jetzt auch aufregte. »Ich bin sicher, das tun Sie auch, aber Sie schlagen sie nicht grün und blau, oder?«
    »Selbstverständlich nicht. Ich habe aus Wut nie auch nur einen Finger gegen sie erhoben.«
    »Weil Sie ein Gentleman sind.«
    »Weil ich
Angst
habe«, rief er und sorgte damit dafür, dass sie einen Schritt zurückwich. Er schluckte und spürte die Tränen in seinen Augen. »Ich habe Angst vor ihr, Ethel«, sagte er. »Höre ich mich an wie ein Schwächling? Vielleicht schon. Höre ich mich an, als wäre ich nur ein halber Mann? Vielleicht bin ich das. Sie hat solche Stimmungsschwankungen, Sie würden es nicht glauben. Ich wache morgens auf, und das Erste, was ich denke, ist: Welche Laune wird sie heute haben? Wir sitzen abends zusammen und hören Musik vom Phonographen, und ich habe Angst, eine Bemerkung zu machen, überhaupt etwas zu sagen, denn sie wird mir widersprechen, egal, was es ist. Sie widerspricht und fängt einen Streit an. Scheinbar ist es das Einzige, was sie will: streiten. Nur so scheint sie eine Beziehung mit mir unterhalten zu können. Indem sie mich zu einem Nichts macht.«
    »Weil sie selbst ein Nichts ist«, sagte Ethel bestimmt, »weil sie nichts in ihrem Leben hat. Dieser Unsinn, dass sie eine Sängerin ist. Daraus wird nie etwas. Das wissen Sie, ich weiß es, und sie weiß es auch. Sie ist so sehr von ihrem Leben enttäuscht, dass sie es an Ihnen auslässt. Sie sind das leichteste Ziel. Weil Sie gütig und sanftmütig sind. Und Sie lieben den Frieden. Sie sind alles, was sie nicht ist.«
    »Was soll ich Ihrer Meinung nach denn tun?«, fragte er flehentlich. »Das geht schon so lange. Vielleicht, wenn ich mich ihr vor all den Jahren entgegengestellt hätte …«
    »Es ist nie zu spät, Hawley. Geben Sie es zu. Sie schlägt Sie, richtig?« Er nickte. »Sie drischt auf Sie ein?« Er nickte. »Womit? Mit der Bratpfanne, mit Töpfen, den
Fäusten?
«
    »Mit allem«, gab er zu, »und noch mehr.«
    »Ich halte Sie deswegen nicht für einen geringeren Menschen«, sagte Ethel leise, schüttelte den Kopf und war ihrerseits den Tränen nahe. »Ich denke, dass Sie in einer schrecklichen Ehe leben und sich daraus befreien müssen. Sie müssen von ihr weg. Bevor sie Sie umbringt, und das wird sie tun, Hawley. Wenn es so weitergeht, bringt Ihre Frau Sie eines Tages um.«
    »Das wäre wohl das Beste«, sagte er so leise, dass sie ihn gerade noch verstand.
    »Das wäre es nicht!«, rief sie und brach tatsächlich in Tränen aus. »O Hawley, wie können Sie das sagen? Wie können Sie das auch nur denken? Was wäre dann mit mir? Wie könnte ich ohne Sie weiterleben?«
    Hawley sah sie erschrocken an. »Sie?«, fragte er. »Aber was …?«
    »Ich könnte es nicht«, sagte sie mit fester Stimme. »So einfach ist das. Ich habe nie einen Mann so geliebt wie Sie, Hawley, und zu sehen, dass Ihre Frau Sie so behandelt, weckt in mir den Wunsch, sie umzubringen.« Sie machte einen Schritt nach vorn, und bevor noch einer von ihnen recht wusste, was sie taten, trafen sich ihre Lippen, und sie küssten sich. Es dauerte nicht lange, nur ein paar Augenblicke, dann fuhren sie zurück und sahen sich mit einer Mischung aus Panik und Liebe an. Ethel schien kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen. »Ich muss gehen«, sagte sie, griff nach ihrem Mantel und schloss die Tür auf.
    »Ethel, warte. Wir sollten …«
    »Wir sehen uns morgen, Hawley«, rief sie, ohne sich noch einmal umzusehen. »Lass dir nur nicht mehr wehtun. Bitte. Wehre dich, für mich.«
    Und dann war sie verschwunden. Hawley stieß sämtliche Luft aus, setzte sich auf einen

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