Der freundliche Mr Crippen | Roman
vorsichtig in eine mittelgroße Medizinflasche füllte. Der Mann draußen hatte etwas Eigentümliches an sich, dachte Henry. Er betrachtete eingehend die Regale und hielt ihm die ganze Zeit den Rücken zugewandt.
»Ein schöner Abend, Sir«, rief Henry in dem Versuch, ein Gespräch anzufangen. »Sind Sie auf dem Weg nach Hause zum Essen?« Der Mann antwortete nicht, sondern lief auch weiter hin und her und klopfte dabei mit seinem Stock auf den Boden. »Wie du willst«, murmelte Henry.
Zehn Minuten später war die Mischung bereitet, und er ging nach vorn und steckte die Flasche in eine Tüte.
»Also«, sagte er. »Ich muss Ihnen nicht eigens sagen, dass Sie damit vorsichtig umgehen müssen, Sir. Verdünnen Sie eine Flaschenkappe immer mit fünf Kappen Wasser, oder Sie wissen, was passiert. Steht auch auf dem Etikett.«
Der Mann gab ihm eine Pfundnote, Henry nahm sie und holte das Wechselgeld aus der Kasse. »Ich muss Sie noch bitten, den Erhalt zu quittieren, Sir«, sagte er, zog eine große schwarze Mappe hervor und blätterte sie durch, bis er die gesuchte Seite fand. »Das ist eine der Substanzen, die wir nicht ohne Unterschrift und Adresse herausgeben dürfen.«
Der Mann nickte, er kannte die Vorschriften und schrieb mit deutlichen Buchstaben: »James Middleton, 46 The Rise, Clerkenwell«. Henry warf einen Blick darauf und nickte. »Vielen Dank, Dr. Middleton«, sagte er. »Und einen guten Nachhauseweg noch.«
Draußen auf der Straße nahm der Mann die Flasche aus der Tüte und las das Etikett noch einmal. Eine Kappe auf fünf Kappen Wasser. Einmal am Tag. Das Herz schlug schnell in seiner Brust, seine Lippen waren trocken, die Knie leicht zittrig. Er steckte die Flasche in die Manteltasche und ging nach Hause.
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14 Inspector Dew besucht 39 Hilldrop Crescent – mehrere Male
London: Freitag, 17 . Juni, bis Mittwoch, 13 . Juli 1910
FREITAG , 17. JUNI
Inspector Walter Dew ging die Camden Road in Richtung Hilldrop Crescent entlang und ärgerte sich, dass er diesen Besuch machen musste. Vorschnelle Versprechungen zu vermeiden war ein wichtiger Teil seiner Aufgaben als Inspector von Scotland Yard. Wenn er all den wilden Behauptungen der Verrückten und Geschichtenerzähler nachgehen würde, mit denen er jeden Tag, den der Herr werden ließ, konfrontiert wurde, bliebe ihm absolut keine Zeit, die wirklichen Verbrechen zu verfolgen. Er hatte einen Constable schicken wollen, um ein paar notwendige Einzelheiten aufzunehmen. Ein Anruf des Londoner Polizeipräsidenten hatte seinen Plänen jedoch ein Ende gesetzt.
»Dew?«, rief der Mann so laut in den Apparat, als hätte er sich immer noch nicht an den Gebrauch von Telefonen gewöhnt. »Was hat es mit diesem Crippen auf sich, dem Sie auf den Zahn fühlen sollen?«
»Crippen?«, fragte Dew und wunderte sich, dass der Name bis zu seinem höchsten Vorgesetzten gedrungen war.
»Da gibt es eigentlich nichts, Sir. Nur ein paar Ladys mit überbordender Fantasie, die glauben, dass der Ärmste seine Frau ermordet hat. Das ist alles.«
»Das ist alles, sagen Sie? Sie halten einen Mord also nicht für eine ernste Sache?«
»Aber natürlich, Sir. Ich meinte nur, dass sich die Behauptungen nicht wirklich ernst anhören. Mir scheint, dass die Ladys einfach etwas zu viel Zeit haben und zu viele Kriminalgeschichten lesen.«
»Nun, das mag ja sein«, knurrte der Polizeipräsident. »Aber sehen Sie, ich bin gerade von Lord Smythson angerufen worden, der sagt, eine dieser Frauen sei seine Schwägerin, und dass sie ganz aufgebracht sei, weil Sie noch nichts unternommen hätten. Sie hat ihm ihr Leid geklagt, weil sie weiß, dass wir im selben Klub sind. Smythson ist ein kränklicher Mann, aber er hat mich gebeten, mich darum zu kümmern, und ich kann ihm das kaum verwehren. Ich muss ihm bald etwas dazu sagen, damit er Ruhe gibt. Gehen Sie also hin und finden Sie heraus, was an der Sache dran ist, okay? Seien Sie ein guter Junge.«
»Aber, Sir, ich habe im Moment eine Menge zu tun. Ich kann nicht einfach alles fallen lassen, weil ein …«
»Tun Sie’s einfach, Dew«, sagte der andere entnervt. »Und stellen Sie nicht infrage, was ich Ihnen sage.«
»Ja, Sir«, antwortete Dew und legte den Hörer mit einem Seufzen auf die Gabel.
Die interne Politik des Yard war für den Inspector eine Quelle fortwährenden Ärgers. Täglich kam es in der Arbeiterklasse zu echten Verbrechen und Morden, aber kaum dass es eine Verdrießlichkeit unter den Reichen gab, zollte
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