Der freundliche Mr Crippen | Roman
dem niemand mehr Beachtung. Allein an diesem Morgen hatte er einen Bericht über eine Leiche bekommen, die sie bei Bow aus der Themse gefischt hatten, und auf dem Leicester Square war eine Frau hinter ihrem Blumenstand erstochen worden. Und jetzt hatte er auch noch diese Sache auf dem Hals.
Er klingelte an der Tür von 39 Hilldrop Crescent, wartete und betrachtete die vertrocknenden Blumen im Vorgarten, die offenbar seit einiger Zeit nicht mehr gegossen worden waren. Eine Gruppe Kinder kam die Straße heruntergelaufen und jagte einem kleinen Hund hinterher. Der unterernährte Straßenköter bellte schwach und lahmte auf einem Bein. Dew zog die Brauen zusammen, und als die Kinder den Hund packten und in die Höhe rissen, wollte er schon hinübergehen und dafür sorgen, dass sie der armen Kreatur nicht noch mehr Schaden zufügten, doch da öffnete sich hinter ihm die Tür, und er drehte sich um.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Hawley und schob seinen Kneifer zurecht, um sich den gut gekleideten älteren Mann, der da vor ihm stand und den Hut in Händen hielt, genauer anzusehen. Noch bevor sein Besucher ein Wort sagte, ahnte er irgendwie, dass es um eine amtliche Sache ging.
»Dr. Crippen?«, fragte Dew.
»Ja.«
»Inspector Walter Dew«, sagte er, »von Scotland Yard.« Dew wusste genau, dass dieser Moment einer der wichtigsten bei jeder Untersuchung war. Typischerweise reagierten die Leute entweder verängstigt oder verwirrt, wenn sie sich einem Beamten vom Yard gegenübersahen. Dew konnte im Allgemeinen auf der Stelle sagen, ob jemand etwas zu verbergen hatte oder nicht. In diesem Fall jedoch gab es keine erkennbare Veränderung im Gesicht seines Gegenübers, was eine seltene Leistung war.
»Wie kann ich Ihnen helfen, Inspector?«, fragte Hawley und blockierte mit dem Arm den Zutritt zum Haus.
»Ich frage mich, ob Sie mir vielleicht ein paar Minuten Ihrer Zeit gewähren könnten?«, antwortete Dew. »Drinnen.«
Hawley zögerte nur einen Augenblick, bevor er die Tür weiter öffnete und den Inspector hereinbat. Im Haus war es totenstill und dunkel, Dew fühlte sich unbehaglich und sah sich in der Diele um.
»Bitte, kommen Sie ins Wohnzimmer«, sagte Hawley in entspanntem Ton. »Ich mache uns einen Tee.«
»Danke«, sagte Dew und ließ den Blick wandern. Er war darauf trainiert, seine Umgebung schnell abzuschätzen, bestand doch immer die Möglichkeit, dass sie einen Hinweis auf die Lösung eines Verbrechens bot. Das Wohnzimmer war makellos sauber, und mitten auf dem Tisch stand eine Schale mit Obst. Die Kissen auf Sofa und Sesseln waren ordentlich ausgerichtet, der Kamin kürzlich erst gesäubert worden. Es war auffallend, wie ordentlich das Haus im Vergleich zum Garten war. »Ich hatte darauf gehofft, Sie zu Hause vorzufinden«, sagte Dew mit erhobener Stimme, damit Hawley ihn auch in der Küche hören konnte. »Ich war mir nicht sicher, ob Sie bei der Arbeit sein würden oder nicht.«
»Normalerweise wäre ich um diese Zeit noch im Geschäft«, sagte Hawley, kam zurück ins Zimmer und stellte zwei Tassen auf den Tisch. »Ich fühle mich allerdings schon die ganze Woche nicht sehr gut, deshalb vertritt mich meine Assistentin.«
»Und wo ist das?«, fragte Dew.
»Wo ist was?«
»Ihre Arbeitsstelle.«
»Oh. Munyon’s Homeopathic Medicines«, antwortete Hawley und schenkte den Tee ein. »Vielleicht kennen Sie uns? Eine Apotheke in der New Oxford Street.«
Dew nickte. Er hatte eine Anzahl solcher »Apotheken« überall in London aufmachen sehen, ohne sich weiter um sie zu kümmern. Als jemand, der sein ganzes Leben nicht einen Tag krank gewesen war, interessierten ihn Wundermittel und fernöstliche Medikamente nicht.
»Ich muss zugeben, dass ich noch nie von einem Mitglied der Polizei besucht worden bin«, sagte Hawley, als sie sich setzten. »Ich hoffe, es ist nichts Ernstes.«
»Nichts allzu Ernstes, hoffe ich«, sagte Dew, holte sein Notizbuch aus der Tasche und leckte aus Gewohnheit über die Spitze seines Bleistifts. »Ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen stellen, das ist alles.«
»Sicher.«
»Es geht um Ihre Frau.«
Hawley blinzelte und zögerte einen Moment. »Meine Frau?«, fragte er.
»Ja. Uns liegt eine Anzeige vor und …«
»Gegen meine Frau?« Er schien verwundert.
»Ihre Frau ist kürzlich gestorben, richtig?«, sagte Inspector Dew, der lieber Fragen stellte, als welche zu beantworten.
»Traurigerweise, ja.«
»Können Sie mir dazu Näheres sagen?«
»Natürlich. Was
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