Der freundliche Mr Crippen | Roman
nichts einfallen. Das fürchterliche Essen lag jetzt einen Monat zurück, und seitdem schien sich etwas Missliches in ihr Verhältnis geschlichen zu haben. Dabei hatte sich zwischen ihnen so viel Zuneigung und Wärme gebildet, dass es schwierig geworden war, sich auf rein freundschaftlicher, kollegialer Ebene zu bewegen. Wäre er nicht verheiratet, könnte er Ethel, so dachte er, etwas über seine Gefühle ihr gegenüber sagen, Gefühle, die sie, da war er überzeugt, auch ihm gegenüber hegte, aber er war verheiratet und sie beide wussten das, und er würde sie nicht beleidigen, indem er ihr etwas Unmoralisches vorschlug. Solange die Verhältnisse waren, wie sie waren.
Er wartete bis zum Ende des Tages, als das Geschäft leer und die Tür abgeschlossen war, bevor er sie aufs Neue in ein Gespräch zu verwickeln versuchte. »Das war ein geschäftiger Montag«, begann er und bemühte sich um lockeres Geplauder. »Vielleicht haben wir in dieser Woche mehr zu tun als in der letzten.« Er sah zu ihr hinüber, doch sie nickte kaum und sagte nichts. Er seufzte. »Ethel?«, fragte er.
Sie drehte sich zu ihm um. »Ja, Hawley?«
»Ich sagte, vielleicht haben wir diese Woche …«
»Ja, ich habe es gehört. Es tut mir leid, ich war in Gedanken. Ich denke, es könnte sein, ja.«
»Sie sind wegen irgendetwas aufgebracht.«
»Was?«
»Ethel, Sie sind aufgebracht. Sie haben heute kaum zwei Worte zu mir gesagt. Was ist los? Habe ich etwas falsch gemacht? Etwas gesagt?«
Sie lachte seine Frage weg. »Aber nein, seien Sie nicht albern. Was könnten Sie schon getan haben?«
»Ich weiß es nicht. Deshalb frage ich ja.«
»Es ist nichts, Hawley. Stören Sie sich nicht an mir. Ich bin nur etwas geistesabwesend.«
Er nickte und fragte fürs Erste nicht weiter nach, aber dann ertrug er das Schweigen nicht mehr, ging um die Theke und stellte sich vor sie hin. »Sagen Sie’s mir«, sagte er. »Was ist es?«
»Hawley, ich …«
»Ethel, ich betrachte uns als Freunde. Falls es etwas gibt, was Sie ärgert oder verstört, würde ich es als verletzend empfinden, wenn Sie sich mir nicht anvertrauen könnten. Gibt es etwas bei Ihnen zu Hause, worüber Sie reden mögen?«
»Bei
mir
zu Hause gibt es nichts, was mir Sorgen macht«, sagte sie endlich und vermochte ihn dabei nicht anzusehen.
»Bei Ihnen nicht?«, fragte er verwirrt. »Aber bei wem denn?«
»Was denken Sie? Bei
Ihnen,
Hawley. Um
Sie
sorge ich mich.«
Er lachte. »Um mich?«, fragte er überrascht. »Aber warum denn, um Himmels willen? Warum müssen Sie sich um mich Sorgen machen?«
Sie überlegte, senkte den Blick und schloss die Augen einen Moment lang, bevor sie ihn ansah. »Hawley, gerade haben Sie gesagt, dass Sie uns als Freunde betrachten.«
»Das ist so.«
»Mir geht es ebenso. Und Sie sagten, dass Sie, wenn es ein Problem gäbe, möchten, dass ich Ihnen davon erzähle. Nun, auch da geht es mir ebenso.« Er starrte sie an und wusste nicht zu entschlüsseln, was sie damit meinte. »Hawley«, sagte sie endlich, »was ist mit Ihrem Gesicht?«
Sein Herz schien einen Schlag lang auszusetzen, er wandte den Blick ab und biss sich auf die Lippe. Das war kein Thema, über das er reden wollte. »Mit meinem Gesicht?«, fragte er. »Warum? Was soll damit sein?«
»Ich rede von Ihrem Auge, Hawley. Nein, laufen Sie jetzt nicht weg«, sagte sie und fasste nach seinem Arm. »Ich möchte, dass Sie es mir sagen. Sie haben einen tiefen Schnitt über dem Auge, und er scheint schmerzvoll zu sein. Ich wundere mich, dass er nicht genäht werden musste.«
»Ich bin Arzt, Ethel.«
»Wie ist es geschehen?«
»Dümmer geht es nicht. Ich bin nachts aufgewacht …«
»Nein«, sagte Ethel mit fester Stimme, »ich habe gehört, was Sie Mr Munyon erzählt haben, und es tut mir leid, aber ich glaube das einfach nicht. Es ist möglich, dass jemand alle Jubeljahre mal gegen einen Türstock läuft, aber nicht so oft wie Sie. Sie kommen ständig her und haben sich verletzt. Sie sagen, Sie sind gegen Türstöcke gelaufen und Treppen hinuntergefallen. Sie haben Weinflaschen geöffnet und den Korken ins Auge bekommen. Sie sind von einem Hansom-Taxi angefahren worden und haben so viele blaue Flecken, dass Sie kaum laufen können. Entweder sind Sie vom Pech verfolgt wie kein anderer Mann in diesem Land, oder es steckt mehr dahinter. Und ich will wissen, was es ist. Ich bin nicht Mr Munyon, ich will die Wahrheit.«
Hawley presste die Lippen aufeinander. Er sah die Sorge in ihren Augen und
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