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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Mr Heath«, rief sie, ohne sich umzudrehen.
    Hawley starrte Alec an und fragte sich, was geschehen war, aber der junge Mann blieb unbeeindruckt und beachtete ihn nicht weiter.
    »Es war schön, Sie kennenzulernen«, rief sie zu ihm hinauf. »Hawley«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ich muss jetzt gehen.«
    »Aber, Ethel, wir …«
    »Hawley, ich gehe«, sagte sie noch einmal.
    Sie sahen einander eine Weile lang an, und er wünschte, er könnte ihre Hand nehmen und sie könnten beide davonrennen, so schnell sie ihre Beine trugen, weit weg vom Hilldrop Crescent. »Sicher«, sagte er und nickte. »Ich muss mich entschuldigen. Es tut mir so leid.«
    »Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte sie und nahm ihren Mantel vom Garderobenständer. »Bitte sagen Sie den anderen Auf Wiedersehen von mir. Und danke für den schönen Abend.«
    »Ethel, was kann ich sagen?«
    »Sagen Sie nichts, Hawley. Ich muss gehen.«
    Er beugte sich vor und wollte sich all seinen Schmerz von der Seele reden, aber Alec kam den Flur entlang, blieb bei ihnen stehen und erlaubte ihnen keinen Moment allein miteinander. »Ich sehe Sie morgen bei der Arbeit«, murmelte er, als sie die Klinke hinunterdrückte und nach draußen trat. Sie zog die Tür schnell hinter sich zu und ließ Dr. Crippen, der vor Wut und Hass bebte, allein.
     
    Im Geschäft war es für einen Montag, der traditionell ihr geschäftigster Tag in der Woche war, recht ruhig gewesen. Den Morgen über war Hawley mit Mr Munyon die Bücher durchgegangen. Er war davon überzeugt, dass der alte Mann nicht mehr lange in dieser Welt weilen würde. Mr Munyons bucklige Gestalt war in letzter Zeit noch hinfälliger geworden, und er schien mit den einfachsten Rechnungen Schwierigkeiten zu haben. Obwohl er nur noch zweimal in der Woche ins Geschäft kam, montagmorgens und freitagnachmittags, versuchte Hawley ihn noch über die kleinsten Dinge informiert zu halten. Er tat es aus Respekt für ihn. Wenn Mr Munyons geistige Fähigkeiten zu sehr nachließen, war es nur eine Frage der Zeit, dass es auch körperlich bergab ging, und als Arzt wollte er das verhindern.
    »Die Einnahmen sind gestiegen, Crippen«, sagte Mr Munyon und fuhr mit dem Finger über eine Zahlenreihe.
    »Nein, Sir, sie sind zurückgegangen«, antwortete er. »Allerdings nicht viel, und heute haben wir gut zu tun.«
    »Hm«, knurrte der alte Mann und ärgerte sich darüber, dass er nicht mehr gleich alles sah. »Und wie geht es mit der neuen Kraft? Macht sie sich nützlich?«
    »Eine neue Kraft?«, fragte Hawley verdutzt. »Aber wir haben niemanden eingestellt.«
    »Sie da draußen«, sagte der alte Mann, hob seinen Stock und deutete damit in Richtung von Ethel, die vorne einen Kunden bediente.
    »Sie meinen Ethel?«, fragte Hawley. »Miss LeNeve, sollte ich sagen. Aber sie ist nicht neu, Sir. Sie ist seit zweieinhalb Jahren bei uns.«
    »Wenn Sie siebenundachtzig Jahre alt sind und während zweiundsechzig davon ein Geschäft aufgebaut haben, kommt Ihnen das schon ziemlich neu vor«, antwortete Mr Munyon und blinzelte zu ihr hin, glücklich darüber, dass er eine gute Ausrede für seine Vergesslichkeit gefunden hatte.
    »Ziemlich«, sagte Hawley.
    Mr Munyon stand auf und sammelte seine Sachen ein, während Hawley das Hauptbuch und die Kontenbücher weglegte. »Was ist mit Ihrem Auge?«, fragte Munyon nach einer Weile.
    »Wie bitte?«
    »Ihr Auge, Crippen. Was ist damit?«
    Hawley legte einen Finger über den tiefen Schnitt über seiner Braue und berührte ihn vorsichtig. »Dümmer geht es nicht«, sagte er. »Ich bin mitten in der Nacht aufgestanden, habe nicht aufgepasst, wohin ich gehe, und ehe ich michs versah, war ich gegen den Türstock gelaufen. Hat mich ziemlich böse erwischt.«
    Munyon nickte. »Ihnen passiert ständig was, Crippen«, sagte er. »Das habe ich noch bei niemand anderem so erlebt. Jede Woche haben Sie was Neues. Sie sollten mehr auf die Welt um sich herum achten. Ich bin halb blind, aber ich laufe nicht in halb so viele Dinge hinein wie Sie.«
    Ethel blickte auf, als sie auf dem Weg zur Tür an ihr vorbeikamen, und wünschte ihrem Arbeitgeber höflich einen guten Tag. Als Hawley zurückkam, sagte sie nichts und hielt den Blick gesenkt, und er fragte sich, ob er sie irgendwie verletzt hatte. Seit Beginn des Tages schon war sie ihm gegenüber so verschlossen, sie antwortete auf seine Fragen, sagte von sich aus aber nichts. Er zermarterte sich das Hirn, womit er sie aufgebracht haben mochte, doch ihm wollte

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