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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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beginnen würde. »Hast du gut geschlafen?«
    »Wie ein Toter.«
    »Ich liebe dich«, sagte sie plötzlich und unerwartet, und er spürte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte. Er konnte sich nicht erinnern, wann jemand ihm gegenüber zuletzt ein solches Gefühl ausgedrückt und er es wirklich geglaubt hatte.
    »Ich liebe dich auch«, antwortete er.
    Sie trennten sich eine Stunde später. Ethel wollte Munyon’s aufsperren, während er noch nach Hause ging, um sich umzuziehen. Sein Schritt auf dem Weg zum Hilldrop Crescent hatte etwas Beschwingtes, Hawley fühlte sich wie ein neuer, mit frischer Kraft versehener Mensch. Je näher er jedoch seinem Haus kam, desto mehr verließ ihn seine Hochstimmung.
    Schweren Herzens drehte er den Schlüssel im Schloss, hatte beim Eintreten dann aber das unerwartete Gefühl, dass sie gar nicht zu Hause war. Irgendwie kam ihm die Luft im Haus ohne ihre Gegenwart leichter vor. »Cora!«, rief er, um sich zu versichern, bekam jedoch keine Antwort. Das gefiel ihm, und er trat ins Wohnzimmer, um zu sehen, ob sie nicht einfach nur auf dem Sofa eingeschlafen war, doch auch da war sie nicht, und er beschloss, nach oben zu gehen und ein Bad zu nehmen. Da zog ein auf dem Wohnzimmertisch stehender, an ihn adressierter Brief seine Aufmerksamkeit auf sich, und er sah ihn verblüfft an, bevor er ihn nahm und öffnete.
    Mein lieber Hawley,
    ich habe mich entschieden, Dich zu verlassen. Ich glaube nicht, dass wir noch länger zusammenleben können. Ich habe einen anderen Mann kennengelernt. Es tut mir leid, Dir das auf diesem Weg zu sagen, aber wir lieben uns, und er hat mich gefragt, ob ich mit ihm nach Amerika kommen will. Wir fahren heute ab. Bitte versuche nicht, mich zu finden, es wäre das Beste, wenn wir uns so verabschieden. Wir werden uns nie wiedersehen. Es tut mir leid, was ich Dir alles angetan habe. Du bist ein netter, anständiger Mann und verdienst mehr Glück, als ich Dir habe geben können. Zögere nicht, es zu ergreifen, wenn Du es vor Dir siehst.
    Deine Cora
    Hawley schnappte nach Luft und sank auf einen Stuhl. Der Brief fiel zu Boden. »Ich glaube es nicht«, sagte er laut, starrte das Blatt an, las ihn noch einmal und versuchte, die verschiedenen Gedanken zu ordnen, die ihm durch den Kopf rasten. Über allem jedoch lag ein Gefühl tiefen Glücks.
    3.  FEBRUAR
    »Nicholas!«, rief Mrs Smythson die Treppe hinauf nach ihrem Mann, der sich gerade für einen weiteren Morgen geschäftigen Nichtstuns ankleidete. »Komm schnell nach unten! Es ist so lustig, du glaubst es nicht!«
    Sie kehrte zum Sofa zurück, auf dem sie gesessen und ihren Morgentee genossen hatte, und las den Brief mit wachsendem Entzücken und ebensolcher Überraschung noch einmal von Anfang bis Ende. Seit dem schrecklichen Abend bei den Crippens vor ein paar Tagen hatte sie sich hin- und hergerissen gefühlt zwischen dem Wunsch, ihre ehemalige Freundin zu besuchen und ihr für das, was sie ihr alles an den Kopf geworfen hatte, jedes Haar einzeln auszureißen, und der Notwendigkeit, angesichts der unglaublichen Provokation Contenance zu wahren, denn sollten die anderen Smythsons davon erfahren und glauben, öffentlich von ihr blamiert worden zu sein, wäre Ärger im Verzug. Aber jetzt war sie aus ihrem Zwiespalt erlöst, denn Cora hatte die Sache in die eigenen Hände genommen.
    Nicholas kam herein, zupfte an seiner Krawatte und setzte sich seiner Frau gegenüber. »Was ist es?«, fragte er, zupfte immer noch weiter und knurrte: »Verdammtes Ding. Ich verstehe sowieso nicht, warum ich so was tragen muss.«
    »Ein Brief«, sagte sie, ohne den Schwierigkeiten ihres Mannes Beachtung zu schenken. »Ein Brief von Cora Crippen.«
    »Eine Entschuldigung, hoffe ich. Einer solchen Unverschämtheit bin ich in meinem ganzen Leben nicht begegnet, und ich war schon auf der Besuchertribüne im Parlament.«
    »Durchaus«, sagte sie. »Hör zu. Ich lese ihn dir vor.«
    Liebe Louise,
    zunächst möchte ich mich für mein schreckliches Verhalten an dem Abend entschuldigen, als Du und Dein Mann uns am Hilldrop Crescent besucht habt. Ich bin eindeutig eine kranke Frau und unfähig, mich in der Öffentlichkeit zu kontrollieren. Es gibt Leute, die mich für einen gestörten, ja, wahnsinnigen Drachen halten, aber das lehne ich als übertrieben ab. Vielleicht bin ich einfach nur ein schlechter Mensch, dem es unmöglich ist, anderen, selbst noch den ehrbarsten, gegenüber den Anschein von Höflichkeit zu wahren. Wie dem auch sei, ich

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