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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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»Warum habe ich dich nicht zuerst kennenlernen können?«, fragte er bitter. »Warum musste ich überhaupt erst an Cora geraten?«
    Ethel nahm ihm die Tasse aus der Hand und stellte sie auf den Tisch. Sie stand auf, streckte eine Hand aus, und er nahm sie und folgte ihr ins Schlafzimmer, wo sie sich, bedächtig und leise, zum ersten Mal liebten. Ethels Körper überraschte Hawley, sie war klein, mit schmalen Hüften, winzigen Brüsten und einer fast jungenhaften Figur. Cora dagegen hatte sich zu einer übergewichtigen, schweren Frau entwickelt, die schon seit Langem keine körperliche Anziehung mehr auf ihn ausübte. Mit ihren massigen Brüsten und ihrer für gewöhnlich leicht anzüglichen Aufmachung zog sie auf der Straße zwar noch immer Blicke auf sich, aber nicht seine. Im Bett neben Ethel liegend, musste er wieder und wieder mit der Hand über ihren ebenen Körper fahren. Endlich dann, erschöpft vom Streit mit seiner Frau, dem Umherwandern durch die Straßen Londons und seinem romantischen Abend mit Ethel, drehte er sich auf die Seite und fiel in tiefen Schlaf, atmete schwer und träumte von einem Leben, in dem es keine Cora Crippen mehr gab.
    Ethel hatte vor dieser Nacht noch nie mit einem Mann geschlafen, auch nicht neben einem gelegen, und war fasziniert von seinen Atemgeräuschen. Sie war jetzt hellwach und hatte nur einen Gedanken im Kopf. Bei seinen ersten Tränen hatte sie bereits entschieden, dass es an der Zeit war, ihren Plan umzusetzen. Sie hatte nur auf den Moment gewartet, da er eingeschlafen war und sie sich unbemerkt hinausschleichen konnte.
    Sie kroch aus dem Bett, zog sich schnell an und holte einen Männermantel und einen Hut aus dem Schrank. Beides hatte sie sich vor ihrem Besuch bei Lewis & Burrow’s besorgt, der in der Oxford Street gelegenen Apotheke, wo sie ein Fläschchen Hyoscin-Hydrobromid gekauft hatte. Das dafür nötige Rezept hatte sie sich selbst auf dem Block ausgestellt, der in einer Schublade bei Munyon’s verschlossen lag. Niemand sollte einen anderen Menschen so behandeln dürfen, dachte sie sich und sah ihr Vorgehen damit gerechtfertigt. Diese Frau steht zwischen Hawley und meinem Glück, so einfach ist das.
    Leise schloss sie die Tür des Schlafzimmers und ging ins Bad, wo sie das Fläschchen im Medizinschrank versteckt hatte. Sie steckte es in die Tasche, holte den falschen Schnauzbart hervor und klebte ihn sich auf die Oberlippe, über die Narbe aus ihrer Kindheit. Die Wunde war damals ewig lang nicht richtig verheilt. Ethel betrachtete sich im Spiegel und musste lächeln. Sie war wirklich ein ziemlich überzeugender Mann.
    Sie brauchte nicht lange bis zum Hilldrop Crescent und versuchte, sich geistig von den Vorgängen zu lösen, als sie die Stufen zu Coras Schlafzimmer hinaufstieg. Sie fürchtete, wenn sie alles noch einmal ernsthaft überdachte, könnte sie das Selbstvertrauen verlieren und einen Rückzieher machen. Tatsächlich in Panik geriet sie nur während des kurzen Moments, als sich ihr Opfer im Bett aufsetzte, zu ihr herüberblinzelte und Hawleys Namen rief. Jetzt gab es keine Umkehr mehr, aber zum Glück hatte die Frau das vergiftete Wasser gleich getrunken, und der Tod war schnell eingetreten. Anschließend trug Ethel sie in den Keller und zerstückelte ihren Körper. Den Kopf wickelte sie in Zeitungspapier und legte ihn in eine Hutschachtel aus Coras Schlafzimmer.
    Bevor sie ging, griff sie in die Innentasche des Mantels, holte den Brief hervor, den sie vor einer Woche für eine Situation wie diese geschrieben hatte, und lehnte ihn gegen den Salzstreuer auf dem Wohnzimmertisch. Sie vergewisserte sich noch einmal, dass sie nichts vergessen hatte, verließ das Haus und kehrte nach Hause zurück, wo sie ihre Verkleidung im Flurschrank versteckte und die Schachtel oben auf den Schrank stellte. Als sie zurück zu Hawley ins Bett schlüpfte, ging draußen bereits die Sonne auf. Zu ihrer Überraschung war das Bett alles andere als warm. Sie legte die Hand auf Hawleys Schulter, aber auch die war kalt.
    Als er aufwachte, war es bereits nach neun Uhr morgens, und im ersten Augenblick wusste er nicht, wo er war. Dann aber kam die Erinnerung an die letzte Nacht zurück, und er fragte sich, wie es weitergehen sollte. Er zog sich schnell an und ging ins Wohnzimmer, wo Ethel gerade den Frühstückstisch deckte.
    »Guten Morgen«, sagte sie mit leichter, fröhlicher Stimme, trat zu ihm und küsste ihn auf die Wange, voller Freude, dass ihr neues Leben schon bald

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