Der freundliche Mr Crippen | Roman
entschuldige mich bei Euch beiden und würde zudem gerne klarmachen, dass mein Mann Hawley in dieser Sache ohne Schuld ist. Der arme Mann leidet unter meinen Launen und Marotten schon länger, als es einem Menschen zugemutet werden sollte. Es ist schändlich, wie ich ihn behandelt habe. Wirklich, dafür sollte ich die Peitsche zu spüren bekommen. Aber das wird sich jetzt alles ändern. Der Hauptgrund, aus dem ich Dir schreibe, ist der, dass ich meinen Verzicht auf die Mitgliedschaft in der Music Hall Ladies’ Guild anbieten möchte, mit sofortiger Wirkung. Ich habe Nachricht von einem Verwandten in Amerika, einem lieben alten Onkel, der krank geworden ist und nicht mehr lange zu leben hat. Es ist schrecklich traurig. Er bittet mich, ihn in Kalifornien zu besuchen und mich während seiner letzten Tage um ihn zu kümmern. Ich betrachte das als eine Möglichkeit, mein schreckliches Verhalten in der letzten Zeit wiedergutzumachen, und habe vor, seiner Bitte nachzukommen. Wenn Du diesen Brief bekommst, werde ich bereits unterwegs sein, und so werde ich Dich vorher nicht mehr sehen. Sei jedoch versichert, dass ich bei meiner Rückkehr nach London die Dinge mit Dir und Nicholas geraderücken will, und meinen gütigen, rücksichtsvollen und wunderbar einfühlsamen Ehemann Hawley so behandeln werde, wie ich es immer schon hätte tun sollen. Mit Achtung und Liebe. Ich hoffe, Du bleibst gesund, und freue mich darauf, Dich und Nicholas bald wiederzusehen.
Mit den besten Grüßen
Cora Crippen (Mrs)
Während seine Frau den Brief vorlas, hatte Nicholas aufgehört, an seiner Krawatte herumzufummeln. Staunend starrte er sie an. Ein solches Stück Prosa hatte er noch nie gehört, er war völlig sprachlos. Endlich blickte Louise von den Seiten auf, immer noch staunend wie auch er, doch dann brachen beide unwillkürlich in Lachen aus und wussten sich für mehrere Minuten vor Heiterkeit kaum zu halten.
»Oh, ich mach mir in die Hose«, rief Louise schließlich und kehrte mit dem Versuch, dem Gelächter ein Ende zu setzen, in die Gosse zurück, in der sie aufgewachsen war.
»Hat diese Frau denn völlig den Verstand verloren?«, fragte Nicholas. »Oder hat sie zu viele Romane mit einer Überdosis Schmalz gelesen? Das muss die merkwürdigste Entschuldigung aller Zeiten sein.«
»Und nicht nur das: Was sie über ihre plötzliche Bekehrung zur pflichtbewussten Ehefrau sagt, übersteigt alles Dagewesene. Wie nennt sie ihn?
Gütig, rücksichtsvoll und wunderbar einfühlsam?
Denkst du, sie war betrunken, als sie das geschrieben hat?«
Nicholas schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. »Schwer zu beurteilen«, sagte er. »Sie kam mir sowieso nie ganz richtig im Kopf vor. Vielleicht ist sie jetzt endgültig hinüber. Jedenfalls erspart sie dir eine Unannehmlichkeit.«
»Mir?«
»Na, jetzt musst du nicht mehr dafür sorgen, dass sie offiziell aus eurem Klub ausgeschlossen wird, oder?«
»Nein, das wohl nicht«, sagte Louise und wurde wieder ernst. »Aber es ist schon sehr komisch, oder? Ich wusste nicht mal, dass sie Verwandte in Amerika hat. Und dass sie so schnell aufbricht! Ich habe sie eigentlich nie für eine Florence Nightingale gehalten. Und diese Selbstverdammung … Das klingt so gar nicht nach ihr.«
»Also, wenn du mich fragst, ist es so das Beste«, sagte Nicholas, stand auf und überprüfte seine Krawatte im Spiegel. »Gut«, sagte er, froh darüber, dass der schwierige Akt des Ankleidens endlich hinter ihm lag. »Damit bin ich für den Tag gerüstet. Wenn du mich brauchst, ich bin im Arbeitszimmer und lese die Zeitung.«
»Ist gut, mein Lieber«, sagte Louise gedankenverloren, als er den Raum verließ, setzte sich wieder hin und las den Brief noch einmal, jetzt mit weniger Heiterkeit. Trotz ihrer neu entdeckten Verachtung für Cora Crippen konnte sie nicht anders, als die Situation für mehr als merkwürdig zu halten. Ihrer Erfahrung nach verhielten sich die Menschen nur äußerst selten derart untypisch, und in diesem Brief schien kein einziger Satz zu Cora zu passen. Normalerweise warf sie ihre Korrespondenz weg, nachdem sie sich damit beschäftigt hatte, in diesem Fall jedoch entschloss sie sich, den Brief zunächst einmal zu behalten.
20. FEBRUAR
Mrs Margaret Nash hatte Shakespeare nie verstanden und würde ihn auch nie verstehen, und ihr Mann Andrew fand Theater sowieso fürchterlich langweilig. Aber Señor Eduardo del Poco, der Chef der mexikanischen Firma, die viele der Arbeitskräfte für Nashs
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