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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Schmutz unter seiner Matratze auf! Das ist widerwärtig! Hast du die Zeitschriften gesehen?«, fragte sie ihren Mann, der dümmlich den Kopf schüttelte, eine in die Hand nahm und durchblätterte, wobei sein aufgeregter Ausdruck mehr und mehr der Enttäuschung wich, als er sich dem Ende näherte.
    »Das interessiert mich«, flehte Hawley. »Es geht um Wissenschaft. Das ist lehrreich.«
    »Es ist
Schmutz!
«, sagte Jezebel. »Wie kann ein Mensch sein Geld nur für derart kranken Abfall zum Fenster hinauswerfen?«
    »Ich lese die Artikel«, sagte Hawley, und seine Stimme hob sich nur ganz leicht. »Ich interessiere mich für den menschlichen Körper …«
    »Hawley! Nicht in diesem Haus!«
    »Dafür, wie die Welt erschaffen wurde. Wer wir sind.«
    Jezebel schüttelte wütend den Kopf, nahm ihrem Mann die Ausgabe weg, die er immer noch in der Hand hielt, warf sie ins Feuer und schob sie mit dem Schürhaken tief in die Kohlen hinein.
    »Mutter, nein!«, rief Hawley, als sie nach dem nächsten Exemplar griff, und noch einem und noch einem.
    »Es ist zu deinem Besten«, sagte sie und sah zu, wie seine jahrelangen Studienhilfen im Kamin flackerten und verkohlten. »Besser, dieses Papier brennt, als dass du selbst eine Ewigkeit in den Flammen des Hades schmorst. Ich könnte nicht weiterleben, wenn ich wüsste, dass du auf ewig in der Hölle sitzt.«
    »Das ist doch lächerlich«, rief Hawley angewidert, und es war das erste Mal, dass er seine Stimme in diesem Haus erhob.
    Die Eltern sahen sich staunend an, während Hawley rot anlief und seine Augen vor Wut funkelten. »Einfach lächerlich!«, rief er. »Diese Zeitschriften faszinieren mich. Versteht ihr denn nicht? Ich will ein Mann der Wissenschaft werden.«
    »Der Wissenschaft?«, schrie Jezebel perplex. »Die Wissenschaft ist reines Teufelswerk und nichts anderes. Habe ich dich dazu unterrichtet?«
    »Das ist mir egal. Das ist es, was ich will«, rief Hawley. Er fühlte sich abgestoßen von ihrer Verblendung, und während er die Zeitschriften in Flammen aufgehen sah, fand er die Worte, um auszudrücken, worin er seine Aufgabe auf dieser Welt sah. »Ich habe vor, Medizin zu studieren«, erklärte er seinen Eltern. »Ich werde ein großer Wissenschaftler.« Damit beugte er sich zu seiner Mutter vor, die allen Mut zusammennehmen musste, um nicht ängstlich einen Schritt zurückzuweichen. »Vielleicht ist das Gottes Plan für mich«, sagte er leise.
    Jezebel hob eine Hand vor den Mund, als hätte er Worte ausgesprochen, die sie alle in die Verdammnis stürzen mussten.
    »Gottes glorreicher Plan, Hawley«, sagte Samuel verwirrt und vielleicht auch etwas betrunken.
     
    Mit Hawleys einundzwanzigstem Geburtstag kam es zu einer ganzen Reihe von Änderungen. Sehr zur Empörung seiner Mutter und zur Überraschung seines Vaters begann Hawley, seinen Willen durchzusetzen, und ließ sich nicht länger vorschreiben, wie er zu leben hatte. Jezebels Zensur riskierend, aber ohne sie erst um Erlaubnis zu fragen, kaufte er den
Scientific American
und legte die Ausgaben stolz auf seine Kommode, wo sie jedem Besucher als Zeugen seiner Perversion ins Auge stachen. Dazu gesellten sich die vierteljährlichen Ausgaben des
American Journal of Human Medicine
sowie die
Medical Practioner’s Bi-Monthly Review,
eine zweimonatlich erscheinende Zeitschrift zur ärztlichen Praxis. Beides waren akademische Schriften, deren Tiefenanalysen den letzten Stand der Wissenschaft in den Vereinigten Staaten darstellten und weit über das Verständnis der meisten Laien hinausgingen. Die Artikel und Schaubilder faszinierten den jungen Crippen jedoch und überzeugten ihn davon, in ihnen das Leben zu finden, nach dem er sich sehnte. Die so offene wie unerwünschte Zurschaustellung schien, im Gegensatz zur Aufbewahrung unter der Matratze, ihre Existenz zu rechtfertigen und ließ Jezebel zögern, sie ebenfalls ins Feuer zu befördern.
    Um sein großes Ideal zu verwirklichen, bewarb er sich an der University of Michigan um eine Zulassung zum Medizinstudium, und erst als sie ihm ihr Vorlesungsverzeichnis schickten, begriff er, dass nach Ansicht einer solchen Einrichtung der Wunsch zu studieren nicht so wesentlich war wie die Fähigkeit, dafür zu bezahlen. Um Arzt zu werden, musste er vier Jahre studieren und der Universität dafür jedes Jahr mehr als fünfhundert Dollar Gebühren zahlen. Seit dem Ende der Schule arbeitete er im Laden seines Vaters, verdiente aber nicht mehr als dreiunddreißig Dollar pro Woche, wovon

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