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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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und auf das zurückkommen, was vor ihnen lag. Dabei versuchte er, seine Frage in einem möglichst ernsthaften Ton zu stellen, weil er nicht blutdürstig erscheinen wollte.
    »Ich selbst schaffe in einer guten Nacht fünf Rinder und vielleicht zwischendurch noch zwei, drei Schafe. Von der Schlachtung bis zur Aufteilung in Portionen, um Hackfleisch draus zu machen. Und du …« Er betrachtete den Jungen von oben bis unten, als hätte er nie einen weniger geeigneten Kandidaten gesehen, »in den ersten paar Monaten hast du Glück, wenn du pro Nacht ohne Hilfe eines schaffst. Aber es kommt nicht auf die Zahl an, Crippen. Denke immer daran. Du musst jedes Tier mit dem gleichen Geschick und der gleichen Sorgfalt angehen, und wenn das heißt, dass du nur ein Fünftel der Arbeit eines anderen schaffst, nun, dann sei’s drum. Werde nicht nachlässig, nur weil du ans nächste Tier willst. Dann ruinierst du das Fleisch.«
    »Verstanden«, sagte Hawley, verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere und spürte, wie ihm das Blut durch die Adern pulste. »Wann fangen wir also an?«
    »Nervös, was?«, sagte Price. »Nur keine Angst, es geht noch früh genug los. Sobald die Glocke da oben schrillt.« Er nickte zur Uhr an der Wand hinüber, die sich langsam auf neun Uhr zubewegte. Die Tagesschicht der Schlachthofarbeiter endete um sieben Uhr, dann kamen die Putzleute, schrubbten die Böden und desinfizierten die Arbeitstische für die Nachtschicht. McKinley-Ross machte keine Pause, es gab immer geschlachtete Tiere, die zerlegt werden mussten.
    Endlich läutete es, und die Türen öffneten sich. Die vierzig Nachtschichtarbeiter betraten einen langen Korridor, in dem Reihen makellos weißer Jacken hingen, so wie sie Wissenschaftler im Labor trugen.
    »Hier gibt’s nur eine Größe«, sagte Price. »Nimm also die Erste, die du in die Hand bekommst, und lass uns an die Arbeit gehen. Ich weiß nicht, was das mit den Jacken soll. Am Ende der Schicht sind alle voller Blut.«
    Hawley nahm eine Jacke und zog sie an. Es gefiel ihm, dass er sich darin wie ein richtiger Doktor fühlte. Er grinste Stanley Price an, der seinen Blick misstrauisch erwiderte und dann den Kopf schüttelte, als hätte er ein schwachsinniges Kind auf dem Weg zu seiner Hinrichtung vor sich, das keine Ahnung hatte, was auf es zukam.
    Price trat in eine Ecke des riesigen Saales, sah sich um und zeigte seinem Schützling die verschiedenen Ein- und Vorrichtungen. »Da drüben sind unsere Werkzeuge«, sagte er. »Sägen, Tranchiermesser, Aufschneidemesser. Sie werden zweimal täglich geschärft. Versuche nicht, mit dem Finger zu testen, wie scharf sie sind, es sei denn, du willst ihn verlieren. Hier vorne hängt ein Schlauch, mit dem wir das Blut in den Abfluss spülen. Es wird da unten gesammelt.« Er nickte hinüber zu einer Ecke des Bodens, der dort plötzlich stark abfiel und wo das Blut verschwinden würde. »Wenn wir anfangen, drücken wir diesen Knopf.« Er hob die Hand und drückte einen grünen Knopf neben einem Fließband, das sich sogleich in Bewegung setzte. Hawley hörte, wie überall in dem mächtigen Raum ähnliche Knöpfe gedrückt wurden und schon kam eine ganze Serie toter Tiere in den Raum gefahren, die an durch die Nacken getriebenen massiven Stahlhaken hingen. »Du hast den Hauptgewinn«, sagte Price mit trockener Stimme, »ein Rind.«
    Der Körper des Rindes bewegte sich langsam voran, bis er sich direkt über dem Abfluss befand, worauf Price einen roten Knopf drückte und das Tier damit ruckartig stoppte. Unsicher schwang es an seinem Haken vor und zurück. Hawley streckte die Hand aus, um das Fell zu berühren: Es war kalt, und die Haare hinter dem Nacken waren leicht aufgestellt, ähnlich wie die auf seinen Unterarmen. Die Augen des Rindes waren weit offen und starrten ihn an, große, finstere schwarze Tümpel, in denen er, wenn er sich vorbeugte, sein eigenes Spiegelbild erkennen konnte.
    »Wir brauchen nur den Rumpf«, sagte Price, »also eins nach dem anderen. Drück den grünen Knopf noch einmal, bis das Rind über der Bank hängt.«
    Hawley tat, was ihm gesagt wurde, dann griff Price zur Seite und zog einen gelben Hebel nach unten, was offenbar einiges an Kraft verlangte. Erschrocken sprang Hawley zurück, als das Rind vor seinen Augen zum Leben zu erwachen schien. Tatsächlich hatte der Hebel den Haken nach hinten bewegt, sodass sich der Kopf des Tieres langsam vorneigte, bis sich das Rind vom Haken löste und mit einem heftigen dumpfen

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