Der freundliche Mr Crippen | Roman
er ein Drittel seiner Mutter für seinen Unterhalt zu geben hatte. Es war ihm völlig unmöglich, die Studiengebühren aufzubringen.
»Ihr müsst verstehen«, sagte er eines Abends, als er seinen Eltern sein Dilemma zu erklären versuchte, »dass es für mich das Wichtigste auf dieser Welt ist, Arzt zu werden. Ich spüre, dass dies mein Schicksal ist, meine Berufung.«
»Bitte, Hawley, benutze diese Worte nicht in solch einem Zusammenhang«, sagte Jezebel, die hocherfreut war, dass er wieder einmal mit einer Bitte zu ihr kam. Wenn sich ihre Haltung seinen Interessen gegenüber mit den Jahren auch etwas entspannt hatte, konnte sie doch nicht umhin, gegen die, wie sie es verstand, antichristlichen Ansichten ihres Sohnes zu protestieren. »Eine Berufung ist allein, wenn dich der gute Herr in seinen Dienst ruft.«
»Vielleicht
tut
Er ja genau das«, antwortete er. »Vielleicht
will
Er ja, dass ich den Kranken helfe und sie gesund mache. Vielleicht
will
Er, dass ich Arzt werde. Schließlich ist es ein ehrbarer Beruf.«
»Der Herr betrachtet die Kunst der Medizin als eine heidnische, das weißt du. Warum sollte Er kleinen Kindern Krankheit bringen, wenn sie von uns Menschen geheilt werden kann? Es ist das Beste, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Sein Wille geschehe.«
Hawley seufzte. Er hatte sich einen Schnauzbart wachsen lassen, den er, wenn er unter Druck geriet, gerne glatt strich. Er mühte sich, die Fassung zu bewahren, da alles andere seine Chancen auf Erfolg erheblich mindern würde. »Mutter, bitte«, sagte er ruhig. »Siehst du denn nicht, wie wichtig es mir ist?«
»Wie viel brauchst du denn?«, fragte Samuel und wagte seine Frau dabei nicht anzusehen. Er spürte ihren giftigen Blick tausend Pfeilen gleich in seinen Körper dringen und wusste, dass er später dafür zahlen würde.
»Die Gebühren betragen fünfhundert Dollar pro Jahr …«
»Fünfhundert Dollar!«, rief Jezebel. »Das ist ausgeschlossen.«
»Es ist teuer, aber das ist es wert«, protestierte Hawley. »Ich kann selbst vielleicht hundert aufbringen, wenn ich einen Nachtjob annehme. Es wird nicht einfach sein, tagsüber zu studieren und nachts zu arbeiten, aber das sind Opfer, die ich auf mich nehme.« Das Letzte sagte er, um den Sinn seiner Mutter für das Märtyrertum anzusprechen.
»Du brauchst also vier Jahre lang vierhundert Dollar pro Jahr?«, sagte Samuel.
»Ja.«
»Sechzehnhundert Dollar?«
»Faktisch ja.«
»Das ist völlig unmöglich«, sagte Jezebel entschieden.
»Ich vermute, wir könnten eine Hypothek auf den Laden aufnehmen«, sagte sein Vater, der sich mit einer Geste über das Gesicht strich, die die seines Sohnes nachahmte. »Die Bank würde dem vielleicht zustimmen. Aber es gibt keine Garantie, dass sie …«
»Wir nehmen keine Hypothek auf den Laden auf«, sagte Jezebel. »Wir haben all die Jahre gebraucht, bis er uns endlich gehört, Samuel, und ich werde mich nicht neu verschulden, damit sich Hawley einen Schlafplatz in der Wohnung des Teufels kaufen kann.«
»Ach, Mutter!«, rief Hawley enttäuscht. »Wenn du doch nur einen Moment lang nicht nur dich sehen könntest.«
»Es tut mir leid, Hawley«, sagte sie. »Es mag eine Enttäuschung für dich sein, aber du weißt, was ich empfinde, und du kannst nicht von mir verlangen, dass ich mich ändere. Ich will nun mal nicht, dass ein Sohn von mir einen solchen Beruf ergreift. Wenn du meinst, du bist dazu berufen, den Menschen zu helfen, warum wirst du dann nicht Lehrer? Der Staat schreit nach jungen Lehrern, und du bringst die besten Voraussetzungen dafür mit. Oder Priester?«
»Aber ich
will
nicht unterrichten«, rief er, »und ganz
sicher
auch nicht predigen. Ich will Arzt werden! Ich will mich der Medizin widmen! Warum ist das für dich so schwer zu verstehen?«
Jezebel schloss die Augen, wiegte sich auf ihrem Stuhl vor und zurück und summte
Amazing Grace,
wie sie es immer tat, wenn sie ihrer Meinung Ausdruck geben wollte, dass die Unterhaltung zu einem Ende gekommen war.
Hawley sah zu seinem Vater hinüber, seiner letzten Verteidigungslinie, aber Samuel zuckte mit den Schultern und warf einen Blick auf seine Frau, der besagte, dass die letzte Entscheidung bei ihr lag und er daran nichts ändern konnte. Zutiefst enttäuscht blieb Hawley nichts anderes, als der Universität zu schreiben, dass er zwar gerne ein Studium aufnähme, sich aber die Studiengebühren nicht leisten könne. Er hoffte noch eine kleine Weile, ein Stipendium zu bekommen, doch
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