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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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stattdessen nahm die Zulassungskommission seine Entscheidung an und dankte ihm für sein Interesse in einem Brief, der keinerlei Mitgefühl für seine Situation verspüren ließ.
    Damit war der Arztberuf ein Wunsch, den er sich aus dem Kopf schlagen konnte. Aber es gab noch andere Studiengänge, die weniger teuer waren, seiner Begeisterung für die Wissenschaft aber dennoch entgegenkamen. Er begann, sich genauer zu informieren, und betäubte seine Enttäuschung, indem er sich sagte, das alles sei auch nicht so schlecht. In einer Ausgabe der
Medical Practioner’s Bi-Monthly Review
las er, das Medical College of Philadelphia biete einen zwölfmonatigen allgemeinen Gesundheitskurs an, durch dessen Abschluss man ein Diplom erlangen könne. Dieser Kurs kostete sechzig Dollar und würde tief in sein Einkommen schneiden, aber er entschied, dass es sich lohnte, bewarb sich und wurde schnell als Student angenommen.
    Um sein Diplom bezahlen zu können, suchte er nach einem Nachtjob und fand eine Stelle im McKinley-Ross-Schlachthof, wo er drei Nächte in der Woche von neun Uhr abends bis sechs Uhr morgens Schafe oder Rinder häuten, ausnehmen, säubern und zerlegen musste.
    Jezebel und Samuel waren entsetzt, doch für Hawley war es ein gewöhnlicher Job, dank dem er sein Studium beginnen konnte. Er hatte genügend Abende damit verbracht, mit dem Finger über die verschiedenen Teile des menschlichen Körpers zu fahren, die in
Gray’s Anatomy
abgebildet waren, die verschiedenen Bezeichnungen und Funktionen zu lernen und zu verstehen, wie leicht sie Schaden nehmen oder zerstört werden konnten. Er wusste, wo die schwachen Punkte von Bändern und Sehnen lagen, und wenn er auch noch nie mit dem Messer in ein totes Tier gefahren war, hatte er doch schon davon geträumt und entschieden, mit welchen Schnitten sich ihre Körper am saubersten zerlegen ließen. Zwar war das alles nicht ideal, dennoch fand er ziemlichen Gefallen an der Vorstellung, ein frisch geschlachtetes Tier zu zerlegen. Er allein würde die Verantwortung dafür tragen, die Knochen von den Muskeln zu trennen und die Haut von den Organen, das Blut aufzufangen und das Fleisch für den Esstisch zurechtzuschneiden. Für viele war das sicher eine abscheuliche Tätigkeit, Hawley Harvey Crippen leckte sich die Lippen, wenn er daran dachte, was da vor ihm lag.
    In seiner ersten Nacht bei McKinley-Ross stand ihm ein zweiundsechzigjähriger Schlachthofveteran namens Stanley Price zur Seite, der ihn, wie es hieß, in das Handwerk einführen sollte. Price war ein magerer Teufel mit einem leichten Buckel und grauweißem Haar. Das Erste, was Hawley an seinem Lehrer auffiel, war, dass dessen Hände nach siebenunddreißig Jahren Schlachthofarbeit rot gerändert und die Poren so tief eingefärbt waren, dass sich die Innereien von Abertausenden Tieren auf seiner Haut wiederfinden ließen. »Das geht auch mit allem Waschen dieser Welt nicht mehr weg«, sagte Price stolz. »Ich habe mehr Blut an den Händen als alle Mörder im Knast zusammengenommen. Und ich bin besser mit dem Messer. Hast du schon jemals ein totes Tier aufgeschnitten?«
    »Noch nie«, gab Hawley zu und lachte, als wäre der Gedanke absurd. Als hätte er die langen, faulen Sommertage seiner Jugend in Michigan damit verbracht, auf der Veranda vor dem Haus wahllos Hunde und Katzen aufzuschlitzen.
    »Wirst du damit klarkommen?«
    »Ich glaube schon. Ich studiere am Medical College in Philadelphia, um Arzt zu werden.« Das war eine harmlose Lüge, denn es war den Absolventen des einjährigen Kurses am MCP nicht erlaubt, sich anschließend Arzt zu nennen, aber natürlich genossen sie eine gewisse medizinische Ausbildung. Hawley glaubte, nicht viel verlieren zu können, wenn er ein bisschen angab, und vielleicht verschaffte es ihm ja sogar etwas Respekt.
    »Aber wenn du in Philly studierst, was zum Teufel machst du dann hier in Michigan?«
    »Es ist ein Fernkurs«, erklärte er.
    »Ein Fernkurs, um Arzt zu werden?«, fragte der ältere Mann skeptisch.
    Hawley nickte und ließ sich nichts anmerken.
    Die beiden starrten sich, wie es Hawley vorkam, minutenlang an, bis Price schließlich schwer durch die Nase ausatmete, den Kopf schüttelte und den Blick abwandte. »Komm mir bloß nicht zu Hilfe, wenn du siehst, dass ich krank zusammenbreche. Mit einem Fernstudium Arzt werden«, murmelte er vor sich hin. »Was wird aus dieser Welt?«
    »Wie viele Tiere zerlegen wir in einer Nacht?«, fragte Hawley. Er wollte das Thema wechseln

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