Der freundliche Mr Crippen | Roman
Kohle, brannte in seinem Magen, und die Flammen stiegen ihm in die Brust und verkohlten sein Herz. Er drehte sich um, und sie sah ihn herausfordernd an, den Wechsel der Temperatur in ihrer Beziehung spürend.
»Wie herzlos du bist«, sagte er, und seine Stimme schwoll an. »Es geht immer nur um
deine
Wünsche,
deine
Träume. Nie um meine. Ich erlebe wieder einmal einen Rückschlag, und alles, was dir dazu einfällt, ist die Frage, woher ich die zusätzlichen acht Shilling für deinen Gesangsunterricht nehmen soll?« Er schrie jetzt, hatte aber seine Zuhörerschaft unterschätzt, denn sie vermochte ihm durchaus Paroli zu bieten.
»Das ist unser Weg aus dieser Bruchbude!«, kreischte sie. »Begreifst du das nicht? Ich kann ein großer Star werden und Tausende und Abertausende Pfund für uns verdienen. Wir können …«
»Oh, hör auf, dir was vorzumachen, Frau!«, rief er. »Du wirst niemals ein Star. Du singst bestenfalls ganz leidlich. Straßenhunde haben eine bessere Chance …«
Sie fand nie heraus, worin die bessere Chance von Straßenhunden bestand, denn noch bevor er seinen Satz beenden konnte, sprang sie vor und schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht. Ihre Lippen verzerrten sich wutentbrannt, während sie ihn mit Blicken durchbohrte, aber auch er ballte die Fäuste und musste sich zügeln, um ihr nicht ebenfalls ins Gesicht zu schlagen. So ein Gefühl hatte er bisher nicht gekannt.
»Sprich nie wieder so mit mir, du nichtsnutziger Narr«, sagte sie leise, und ihre um einige Töne tiefer klingende Stimme schien aus den Abgründen der Hölle heraufzuklingen. »Du bist nur verbittert, weil
ich
ein großer Star sein werde und aus
dir
niemals ein richtiger Doktor wird. Du wirst mir die acht Shilling pro Woche beschaffen, Hawley Crippen, oder ich will den Grund wissen, warum du es nicht tust. Verstehen wir uns?«
Er starrte sie an, und eine Unzahl möglicher Antworten kam ihm in den Sinn. Verzweifelt suchte er nach der Kraft, die nötig war, um die Worte, die er sagen wollte, auszusprechen. Aber so, wie sie vor ihm stand, bereit zum nächsten Schlag, wenn nicht mit der Hand, dann mit der Zunge, spürte er, wie alles in ihm zusammenbrach und dass es nur eine Antwort gab, zwei Worte, nichts sonst. Diesmal besaß er nicht die Kraft, sich ihr entgegenzustellen. Er nickte und wandte den Blick ab.
»Ja, Cora«, sagte er.
[zurück]
7 Die Smythsons und die Nashs
London: 6 . April 1910
Mrs Louise Smythson und ihr Ehemann Nicholas kamen kurz nach vier Uhr fünfzehn nachmittags in den Speisesaal des Savoy-Hotels. Sie waren mit ihren Freunden, Mr und Mrs Nash, zum Geburtstagstee verabredet, für vier Uhr, und es war ihnen peinlich, sich zu verspäten, aber die letzten paar Tage waren so turbulent und belastend gewesen, dass sie sicher waren, ihre Freunde würden Verständnis haben.
Sie hatten an diesem Morgen länger als gewöhnlich geschlafen. Fünf Tage zuvor, am 1 . April, war Nicholas’ Vater, Lord Smythson, im Schlaf gestorben. Nicholas wusste sich seitdem vor Trauer kaum zu fassen, aber das war nichts im Vergleich zu dem, was seine Frau durchzumachen hatte, wenn auch aus einem ganz und gar anderen Grund. Ihr Elend rührte aus der Tatsache, dass nach Lord Smythsons Ableben dessen Titel auf ihren Schwager Martin übergegangen war, der, obwohl er vierzig Jahre jünger war als sein Vater, ebenso hinfällig schien. Louises innigster Wunsch war gewesen, dass Martin noch
vor
Lord Smythson starb, da der Titel nach dessen Tod dann auf Nicholas übergegangen wäre. Diese Möglichkeit war nun jedoch verloren, und sie konnte nur warten und hoffen, dass die Natur ihren Lauf nahm.
Kurz nach elf hatte dann heute Morgen die Türglocke geläutet, und das Mädchen überraschte Louise mit der Nachricht, ihre Schwägerin Elizabeth sei gekommen, um sie zu sprechen. Elizabeth hatte Martin sechs Monate zuvor geheiratet und war von der Familie mit offenen Armen als vollkommene englische Rose und passende Frau für den ältesten Sohn in ihren Kreis aufgenommen worden. Es bestand keine Frage, dass ihr hübsches Gesicht und ihr stiller Charme all das verkörperten, was sich die Smythsons für ihren Fortbestand wünschten. Das Unbehagen der Familie, als Nicholas seine Braut vorgestellt hatte, war immer noch ein wunder Punkt für Louise, auch wenn es ihr am Ende gelungen war, ihre neuen Verwandten für sich zu gewinnen, indem sie sich als äußerst geschickt darin erwies, ihre niedere Herkunft – und ihren Akzent – zu
Weitere Kostenlose Bücher