Der freundliche Mr Crippen | Roman
verstecken und sämtliche Verhaltensweisen der oberen Klassen anzunehmen, so als wäre sie dort hineingeboren. Nachdem sie einander vorgestellt worden waren, hatte Elizabeth gleich versucht, die Freundschaft ihrer neuen Schwägerin zu gewinnen, und Louise erlaubte ihr die Illusion – die Illusion, dass sie, Louise, ihre Schwägerin mochte. Dabei war Elizabeth ihre Feindin, denn wenn man sie nicht aufhielt, gebar sie womöglich einen Erben für Titel und Vermögen. Elizabeth liebte ihren kränkelnden Mann leidenschaftlich, und ein Spross aus dieser Ehe könnte Nicholas und Louise auf ewig zu den armen Verwandten machen.
»Elizabeth!«, rief sie, als ihre Besucherin den Raum betrat, immer noch in schwarzer Trauerkleidung wegen ihres verstorbenen Schwiegervaters. »Wie schön, dich zu sehen, und das zu so früher Stunde.«
»Ich hoffe, ich störe dich nicht, Louise«, sagte Elizabeth nervös.
»Aber natürlich nicht«, antwortete die Schwägerin und sah gleich den Ausdruck von Sorge auf Elizabeths Gesicht. »Setz dich. Julie wird uns einen Tee bringen. Julie!«, fuhr sie auf, als wäre das Mädchen schwerhörig. »Tee!«
Die Ladys setzten sich aufs Sofa und besprachen die Ereignisse der vergangenen Tage. Die Beerdigung von Lord Smythson. Die Übertragung des Titels. Die Verlesung des Testaments. Martins ständiges Husten in der Kathedrale während der Messe. »Er ist im Moment so schrecklich krank«, sagte Elizabeth. »Die Ärzte fürchten, es könnte eine Lungenentzündung sein. Ich bin außer mir vor Sorge, meine liebe Louise, wirklich.«
»Aber natürlich«, sagte Louise, drängte Julie erfreut zur Seite und schenkte den Tee selbst ein. »Er hätte nicht an der Beerdigung teilnehmen dürfen, nicht an so einem regnerischen Tag. Das musste ihn doch krank machen.«
»Ich weiß. Trotzdem hattest du recht, darauf zu bestehen. Wie hätte es denn ausgesehen, wenn der älteste Sohn nicht zur letzten Messe für seinen geliebten Vater gekommen wäre?«
»Das stimmt«, sagte Louise. »Ich habe nur an seinen Ruf gedacht und hoffe, damit nicht seiner Gesundheit geschadet zu haben.«
»Ach, jetzt hätte ich es beinahe vergessen!«, sagte Elizabeth und holte ein kleines Schmuckkästchen aus der Handtasche. »Ich habe dir ein Geburtstagsgeschenk mitgebracht. Ich wusste, dass du so kurz nach der Beerdigung keine Feier veranstalten würdest, aber ich konnte den Tag nicht einfach so unbemerkt vorbeigehen lassen.«
»Wie lieb von dir«, sagte Louise und griff gierig nach dem Kästchen. »Und sorge dich nicht, wir trinken später mit unseren Freunden, den Nashs, einen Geburtstagstee. Mrs Nash ist eine Freundin von mir aus der Music Hall Ladies’ Guild. Aber jetzt lass mich doch sehen …« Sie öffnete das Kästchen, holte ein Paar Ohrringe daraus hervor und hielt sie ins Licht. »Ach, sind die nicht entzückend«, sagte sie und versuchte, nicht zu begeistert zu klingen, als sie die Saphire sah. »Ich danke dir so sehr, meine Liebe.«
»Danke«, sagte Elizabeth, wandte den Blick ab und verzog das Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse.
Sie brach in Tränen aus, und Louise starrte sie irritiert und ratlos an. »Elizabeth?«, fragte sie und wollte schon den Arm tröstend um die Schwägerin legen, hielt sich jedoch zurück. »Was ist denn nur? Du weinst doch sicher nicht immer noch um den Schwiegervater?«
Elizabeth schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht«, sagte sie.
»Geht es um Martin?«
»Nun, ja, auch. Ich habe gestern mit dem Arzt gesprochen, und er will ihn ins Krankenhaus bringen, damit sie ein paar Tests machen und ihn beobachten können. Er sagt, es sei das Beste für ihn.«
»Aber Elizabeth, das ist doch sicher eine gute Sache«, sagte Louise und nahm sich vor, dem Arzt ihres Schwagers zu schreiben und zu verlangen, dass er Martins Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden, respektierte: Wenn der Ärmste schon sterben müsse, sollte ihm wenigstens erlaubt werden, das zu Hause in Würde zu tun. »Da können sie sich am besten um ihn kümmern.«
Elizabeth nickte, blickte aber immer noch ganz elend drein. »Ich weiß, ich weiß«, sagte sie. »Vielleicht können die Ärzte ihm dort ja helfen, aber ihn anzusehen, Louise, es bricht mir das Herz. Er ist so dünn und so blass, und manchmal bekommt er kaum Luft. Er ist nur noch ein Schatten seines früheren Selbst.«
Dafür, und nur dafür, empfand Louise Mitgefühl. Die beiden Frauen kamen nicht sehr oft zusammen, und als Louise ihren Schwager beim Begräbnis
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