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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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dein Tag?«
    »Ja, und er ist ein wirklicher Experte, Hawley. Er sagt, in den fünfzehn Jahren, die er unterrichtet, habe er keine natürlichere Sängerin als mich kennengelernt. Er sagt, mit der richtigen Anleitung könnte ich die erfolgreichste Sängerin Londons werden.« Natürlich hatte er nichts dergleichen gesagt.
    »Das sind ja gute Nachrichten«, murmelte Hawley, befreite den Sessel von der auf ihm ausgebreiteten Unordnung, ließ sich hineinfallen und bedeckte das Gesicht mit den Händen. »Ich dagegen habe eher schlechte.«
    Sie sah ihn aufmerksam an. Für einen Augenblick, einen kurzen Augenblick, sorgte sie sich um ihn, als könnte ein großes Unheil geschehen sein. Ausnahmsweise einmal regte sich ein Gefühl in ihr. »Hawley«, sagte sie. »Was ist geschehen? Du wirkst so angespannt.«
    Er ließ ein bitteres Lachen hören, schüttelte den Kopf und hielt den Blick von seiner Frau abgewandt, damit sie nicht sehen konnte, wie sich Tränen in seinen Augen sammelten. Er hatte Angst, die Lider zu senken, weil sie ihm dann womöglich bächeweise die Wangen hinunterrannen. Sie hatte ihn noch nie weinen sehen, und er wollte nicht, dass es jetzt geschah. »Ich war bei der Medical Association«, begann er.
    »Natürlich, das hatte ich ganz vergessen. Ich bin nicht bei der Sache. Hast du deine Zulassung bekommen?«
    »Ha!«, sagte er. »Habe ich nicht.«
    Ihr sank das Herz, und sie setzte sich auf einen Küchenstuhl und betete, dass es nur ein vorübergehender Rückschlag war. »Warum nicht?«, fragte sie, als klar wurde, dass er von sich aus nicht mehr dazu sagen würde. »Ging es um Geld? Musst du dafür zahlen?«
    Er drehte sich zu ihr um, und sie sah, wie schrecklich verstört er war. »Die Medical Association sagt, meine Diplome sind in England nichts wert. Sie sagt, um als Arzt praktizieren zu können, muss ich hier in London Medizin studieren und die staatlichen Examina bestehen. Was etliche Jahre in Anspruch nehmen und mehr Geld kosten würde, als wir haben.«
    Cora schnappte nach Luft. »Nein!«, sagte sie. Ihr Mann nickte nur. »Aber Hawley, das ist lächerlich. Du bist ein ausgebildeter Arzt.«
    »Sie behaupten etwas anderes. Sie behaupten, zwei Diplome durch Fernkurse in Philadelphia und New York machen noch keinen Arzt aus mir. Oh, sieh mich nicht so erstaunt an, Cora. Wie oft habe ich das schon gehört. Du weißt es. Anthony Lake, dieser Narr, er wusste es auch, und dieser Richard Morton, er hat es mir ins Gesicht gesagt, als wäre ich ein Hund ohne Gefühle. Du selbst hast es mir bei mehr als nur einer Gelegenheit gesagt. Ich kämpfe jetzt seit Jahren dagegen an, und das alles nur, weil ich mir ein reguläres Medizinstudium nicht leisten konnte. Daran ist … allein diese Frau schuld«, fügte er schließlich noch hinzu und zischte die Worte aus sich heraus.
    Cora stand auf und ging neben ihm in die Knie, nahm seine Hand und streichelte sie sanft. Wollte sie ihm am Ende tatsächlich weiblichen Trost spenden? Würde sich ihre sterile, tyrannische Beziehung angesichts seiner Enttäuschung ändern? Er konnte es kaum glauben. »Hawley«, sagte sie endlich mit leiser Stimme, »Signor Berlosci braucht acht Shilling die Woche, um mich zu unterrichten. Du musst sie irgendwie beschaffen. Wird dir Munyon mehr Arbeit geben, was meinst du?«
    Er kniff die Augen zusammen und konnte nicht glauben, was er da hörte. »Wie bitte?«, sagte er.
    »Munyon’s«, sagte sie. »Im Moment verdienst du genug, damit wir einigermaßen angenehm leben können, aber um zusätzlich acht Shilling zu verdienen … Nun, du musst einfach ein paar zusätzliche Schichten arbeiten. Oder vielleicht erhöht Mr Munyon dein Gehalt? Du musst mit ihm reden, es ist wichtig.«
    Hawley machte sich von ihr los, stand auf und trat ans Fenster. Er atmete schwer und versuchte, die Fassung zu bewahren. In den vier Jahren, seit sie verheiratet waren, hatte er nicht ein einziges Mal die Stimme gegen seine Frau erhoben. Das Schimpfen und Schreien hatte er ihr überlassen. All ihre Streitigkeiten drehten sich um seine Unfähigkeit, ihr den Lebensstil zu ermöglichen, den sie ihrer Meinung nach verdiente, und endeten damit, dass sie ihn anschrie, beschimpfte und mit Bratpfannen und Töpfen bedrohte, worauf er nachgab und ihr gewährte, was immer sie wollte, alles, wenn sie nur aufhörte zu schreien. Aber jetzt spürte er eine Wut in sich aufsteigen, wie er sie noch nie zuvor verspürt hatte. Sie drohte ihn von innen aufzufressen, brannte wie ein Stück

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