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Der freundliche Mr Crippen | Roman

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Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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nehmen sollte. Der junge Mann gewann und sah die Frau mit einem so triumphierenden Blick an, dass Hawley überlegte, ob er das Ergebnis nicht umkehren sollte.
    Er hatte fast fünfzig Pfund seiner Ersparnisse dafür ausgegeben, sich eine richtige zahnärztliche Ausrüstung zu beschaffen, einschließlich einer großen Lampe, die über dem Patienten hing und noch die finstersten Tiefen seiner Schmerzen ausleuchtete. Als er in den Mund des Jungen sah, erkannte er gleich, wo das Problem lag. Einer der Sechser-Backenzähne im Unterkiefer war abgebrochen, und es hatte sich ein Abszess gebildet. Der Nerv lag praktisch frei, und die verbliebene Hälfte des Zahnes hatte sich schwarz verfärbt. »Wann ist er Ihnen abgebrochen?«, fragte Hawley, während er den Rest der Zähne nach ähnlichen Problemen durchsah.
    »Ungefähr vor einem Monat«, sagte der Junge, der Peter Milburn hieß. Er hatte Angst, die Wahrheit zu sagen – dass es nämlich schon sechs Monate her war –, damit ihn der Doktor nicht ausschimpfte.
    »Verstehe«, sagte Hawley und glaubte ihm kein Wort. »Nun, der muss raus, fürchte ich. Es gibt keine andere Möglichkeit.«
    »Das habe ich mir schon gedacht«, sagte Milburn, der sich bereits mit seinem Schicksal abgefunden hatte. »Wird es wehtun?«, fragte er zaghaft wie ein kleines Kind.
    Hawley unterdrückte ein Lachen. »Keine Sorge«, sagte er. »Ich habe schon Hunderte Zähne gezogen. Es ist vorbei, noch ehe Sie es merken.«
    Er ging zum Schrank mit den Instrumenten, füllte eine große Spritze mit einem Betäubungsmittel und drückte vorsichtig ein paar Tropfen aus der Nadel. Es war kein besonders starkes Betäubungsmittel, aber ein stärkeres durfte er ohne Zulassung nicht kaufen, und so musste er sich mit etwas zufriedengeben, was seine Patienten kaum vor Schmerzen bewahrte und ohne Ausnahme schreien ließ. Er hatte schon überlegt, ob er ihre Handgelenke an die Lehnen binden sollte, damit sie nicht so um sich schlugen, dann aber entschieden, dass das Ganze dadurch eher einer mittelalterlichen Folterung glich als einer medizinischen Prozedur. Schließlich war es wichtig, dass die Patienten wiederkamen.
    Milburn zuckte zusammen, als er die Spritze mit der Nadel auf seinen Mund zusteuern sah, aber Hawley versicherte ihm, dass der Einstich nicht sehr schmerzen würde, was stimmte.
    »Nun warten wir einen Moment, bis sich das Mittel verteilt hat«, sagte er, als die Injektion vorgenommen war, »dann holen wir den Zahn heraus.«
    Neben dem Waschbecken bewahrte er ein Sortiment Messer, Pinzetten und Zangen in einer Wanne mit sterilem Desinfektionsmittel auf. Jedes Gerät hatte eine andere Größe und Form, sie waren für verschiedene Erfordernisse und Zähne gestaltet. Er wählte einige Arbeitsgeräte aus und legte sie auf eine mit einem weißen Tuch bedeckte Ablage neben dem Behandlungsstuhl. Nach ein paar Minuten versicherte ihm Milburn, dass sich die linke Seite seines Mundes einigermaßen taub anfühle.
Einigermaßen
war das Schlüsselwort. Crippen machte sich an die Arbeit.
    Zuerst nahm er ein spitzes Messer Nr.  6 mit einer schmalen silbernen Klinge und stieß es in die Rundung des Abszesses, der sofort aufplatzte und Flüssigkeit in Milburns Mund strömen ließ. In der Sekunde, da die Klinge den Abszess berührte, fuhr der Junge wie von einem elektrischen Schlag getroffen zusammen. Hawley, der die Reaktion kannte, lehnte sich zurück. »Ich muss den Abszess erst leeren«, erklärte er. »Es tut mir leid, das schmerzt ein wenig, aber es dauert nicht lange. Sie müssen geduldig sein.«
    Milburn, der von Natur aus kein Feigling war und bereits überlegte, ob er Polizist werden sollte, nickte ergeben. Er lehnte sich zurück, die Fäuste auf den Lehnen geballt und die Fingernägel in die Handflächen gegraben, um dem Schmerz, über den er keine Kontrolle hatte, entgegenzuwirken. Als ihm Hawley erneut mit der Klinge in den Mund fuhr, schloss er die Augen. Es war schwer, ruhig zu bleiben, während der Doktor den Abszess auskratzte.
    »Können Sie mir etwas mehr Betäubungsmittel geben?«, bettelte Milburn, als er sich den Mund zum achten Mal ausspülte und sein ganzer Körper vor Schmerzen bebte.
    Hawley schüttelte den Kopf. »Das ist das stärkste, das es gibt«, log er. »Es liegt daran, dass der Abszess so groß war, und das ist nun mal schmerzhaft. Aber jetzt ist er so gut wie geleert, was bedeutet, dass wir den Zahn herausholen können.«
    Milburn nickte und lehnte sich wieder zurück. Ihm stand

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