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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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sie lustvoll und entgegenkommend und versagte ihm keinen Gefallen. Stand sie jedoch aufrecht, so wurde sein Blick von ihren weniger vorteilhaften Merkmalen angezogen. Die Art, wie die Brüste etwas schief an ihrem Körper hingen, beide etwas klein im Vergleich zur Muskulatur ihres Oberkörpers … die an Haferbrei erinnernde Konsistenz der Haut um ihre Knie … die üppige Behaarung der Beine. Sie stand vor ihm in der Pose einer verführerischen Venus von Milo, aber alles, was er sah, war eine Frau, die auf die dreißig zuging und deren Körper sich weit vor der Zeit selbst zerstörte, was ungesunder Ernährung und fehlender Bewegung geschuldet war. »Bitte, zieh dich an, Cora«, drängte er sie. »In einer Viertelstunde kommt meine nächste Schülerin.«
    Cora schnaubte irritiert und begann, in ihre Kleider zu steigen. Mr Mullins war der Besitzer eines kleinen Theaters in der Shaftesbury Avenue (zufällig nicht weit von Hawleys Arbeitsplatz), und Signor Berlosci behauptete, eng mit ihm befreundet zu sein. Der Mann veranstaltete regelmäßig Varietéabende und auch reine Gesangsabende mit einer einzigen Sängerin, und in einem Moment lustgetriebener Verrücktheit hatte Berlosci Cora vor Monaten schon versprochen, ein Vorsingen für sie zu arrangieren. Was Cora nicht wusste, war, dass ihr Lehrer schon so viele angehende Starsängerinnen zu Mullins geschickt hatte, dass dem Theaterbesitzer klar geworden war, Berlosci benutzte ihn, um die Frauen ins Bett zu bekommen. Daher hatte er der Sache ein Ende gesetzt und seinem Freund unverblümt erklärt, er wolle nur noch wirkliche Talente geschickt bekommen, und sobald er annehmen müsse, dass es um etwas anderes gehe, sei es ein für alle Mal mit dem Vorsingen vorbei. So hatte Berlosci im vergangenen Jahr nur noch zwei seiner Schülerinnen zu ihm geschickt, beide außergewöhnliche Sängerinnen, und er wusste, Cora verkörperte genau die Art von hoffnungsvollem Mittelmaß, das Mullins auf der Stelle nach Hause schickte.
    »Du hast es mir versprochen«, sagte Cora leise. Sie wollte nicht streiten, aber sagen musste sie es doch.
    »Und ich habe es ernst gemeint«, sagte er. »Ich werde bald schon mit ihm reden. Aber du bist noch nicht so weit.« Seine Züge wurden etwas weicher, und er trat zu ihr und küsste sie wie ein stolzer Vater auf die Stirn. »Vertrau mir. Bald schon wirst du bereit dafür sein, und dann wird Mr Mullins dich anhören. Auf die Knie wird er vor dir gehen und dich mit Blumen und Girlanden überschütten, wie es die Franzosen mit Marie de Santé gemacht haben und die Italiener mit der großen Sabella Donato.«
    »Versprichst du das, Alfredo?«, sagte sie und versuchte vergeblich, sich kokett zu geben.
    »Promesso.«
    Als er sie an diesem Nachmittag hinausgehen sah, beschloss Signor Berlosci, es sei an der Zeit, dass er und Cora Crippen sich trennten, als Lehrer und Schülerin und als Liebespaar.
     
    Für gewöhnlich warteten zwei oder drei Patienten, wenn Dr. Crippen abends in seine Praxis kam, und jeder von ihnen trug eine Mischung aus quälendem Schmerz und schrecklicher Angst vor der vor ihm liegenden Tortur im Blick. In den zwölf Monaten, seit er als Zahnarzt praktizierte, war ihm aufgefallen, dass ihn nie jemand aufsuchte, sobald sich ein erstes Problem mit einem Zahn andeutete. Stattdessen warteten sie alle und beteten, dass, was immer es sein mochte, von selbst wieder verschwand. Erst wenn sie begriffen, dass es nur noch schlimmer wurde, kamen sie zu ihm. Die meisten seiner Patienten stammten aus der Arbeiterklasse, und niemand bemerkte das Fehlen einschlägiger Urkunden und Zeugnisse an seinen Wänden oder warf auch nur einen Blick auf die beiden gerahmten Diplome vom Medical College in Philadelphia und dem Ophthalmic Hospital in New York, die an bevorzugter Stelle im Behandlungszimmer hingen. Die Leute kamen und wollten nichts anderes, als dass er sie von ihren Schmerzen befreite und das mit so wenig zusätzlichem Schmerz wie nur möglich.
    An diesem Abend warteten nur zwei Patienten auf Hawley, und beide behaupteten, zuerst da gewesen zu sein. Eine Frau von gut fünfzig Jahren schwor Stein und Bein, dass sie bereits seit drei Uhr nachmittags hier sitze und warte, während der Zweite, ein etwa fünfzehnjähriger Junge, behauptete, sie sei erst fünfzehn Minuten vor Hawley gekommen, und deshalb sei er als Erster an der Reihe. Solche Streitereien war Hawley nicht gewohnt, und er musste eine Münze werfen, wer zuerst auf seinem Stuhl Platz

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