Der freundliche Mr Crippen | Roman
Erleichterung verschaffen. Er drückte sich an sie, und sie spürte sein Verlangen und stieß ihn zurück.
»Lass mich«, kreischte sie. »Schmutziger Kerl!«
»Aber Cora …«
»Das meine ich ernst, Hawley. Wie kannst du nur!«
Er starrte sie an, seine Lust schwand dahin, und er fühlte sich einsamer als je zuvor.
»Also wirklich«, murmelte sie, drehte sich von ihm weg und hoffte, dass er sie an diesem Abend nicht noch länger mit seinen Gefühlen bedrängte.
Er tat es nicht, sondern drehte sich beschämt und gedemütigt in die andere Richtung. Es dauerte Stunden, bis er endlich in Schlaf fiel, und seine Träume waren von der Erinnerung an Peter Milburns Torturen erfüllt. In der Frühe erwachte er zu seiner Überraschung so benetzt wie ein pubertierender Teenager, und er war gezwungen, sich, ehe seine Frau die Augen öffnete, leise aus dem Bett zu stehlen und das Ergebnis seiner Träume, seines von der Erinnerung an den Schmerz und die Schreie des jungen Milburn befeuerten Verlangens, zu beseitigen.
Die Geschäfte liefen immer besser für Munyon’s Homeopathic Medicines, doch die Gesundheit des Besitzers, Mr James Munyon, verschlechterte sich von Tag zu Tag. Er wurde immer vergesslicher und konnte kaum mehr einen vollen Tag arbeiten, ohne sich abends geradezu ausgelaugt zu fühlen. Endlich beschloss er auf Anraten seines Arztes, sich zur Ruhe zu setzen und Hawley die Führung des Geschäfts zu überlassen. Es dauerte fast einen Monat, bis jemand auf das Schild »Mitarbeiter gesucht« antwortete, das der jüngere Mann ins Fenster gestellt hatte. Es kamen jedoch nur unbrauchbare Bewerber, die er schnell ablehnte, und nach einer Weile begann er, sich Sorgen zu machen, er würde vielleicht niemals einen passenden Assistenten finden. Eines Tages, als er die Suche schon fast vergessen hatte, läutete die Glocke über der Ladentür und verkündete das Eintreten einer jungen Frau. Hawley sah von den Konten auf, die er gerade studierte, aber seine Kundin kehrte ihm den Rücken zu und betrachtete die Auslage mit Kräutermedizin in der Ecke beim Fenster, nahm ein Glas in die Hand und las die Anleitung auf der Seite. Hawley wandte sich wieder den vor ihm liegenden Rechnungen und Quittungen zu, hob den Kopf jedoch gleich wieder, denn etwas an dieser Frau zog ihn unwillkürlich an. Sie war nicht sehr groß, vielleicht einen Meter fünfundsechzig, und ihr Rücken zeugte von einer eher jungenhaften Figur, schlank, schmalhüftig, gesund. Ihr Haar war dunkel und reichte ihr kaum bis auf die Schultern. Jetzt schien sie seinen Blick zu spüren und wandte sich leicht nach links, sodass er ihre blasse Haut und die markanten Wangenknochen sehen konnte. Schnell senkte er den Blick und erlaubte sich auch nicht, ihn wieder zu heben, als er sie auf sich zukommen hörte. Erst als sie hüstelte, um auf sich aufmerksam zu machen, riss er sich von seinen Zahlen los und sah sie an, als wäre ihm gar nicht aufgefallen, dass da jemand hereingekommen war.
»Guten Tag«, sagte er leise und betrachtete ihr Gesicht. Sie war ziemlich jung und auf eine leicht androgyne Weise hübsch, so als hätte sich Gott nicht entscheiden können, ob Er nun ein überraschend maskulines Mädchen oder einen ungewöhnlich hübschen Jungen schaffen wollte. Irgendwie war Ihm dabei aber trotz aller Verwirrung etwas ziemlich Außergewöhnliches gelungen. Eine schmale Narbe, die von der Nase über die Lippe verlief, war der einzige kleine Makel, und Hawley verspürte das plötzliche Verlangen, sie zu berühren. »Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte er und widerstand seiner Regung.
»Ich habe Ihr Schild gesehen«, sagte die junge Frau mit fester Stimme, was darauf hindeutete, dass es sie einigen Mut kostete, ihn so anzusprechen.
»Mein Schild?«
»Das Schild im Fenster: ›Mitarbeiter gesucht‹. Ich wollte mich nach der Stelle erkundigen.«
»Ach«, sagte Hawley, legte seinen Stift zur Seite und lehnte sich leicht zurück. »Natürlich. Die Stelle.«
»Richtig.«
Er nickte ihr zu und wusste nicht, was er als Nächstes sagen sollte. Er hatte schon einige Bewerbungsgespräche geführt und dabei immer versucht, zugleich Respekt gebietend, aber auch freundlich zu erscheinen, um von Beginn an alles richtig zu machen. Mit Helen Aldershot war genau das danebengegangen. Mr Munyon hatte sie eingestellt, und da Hawley entschlossen war, einen guten Eindruck zu machen, war er viel zu nett zu ihr. Als er dann seine Autorität durchsetzen musste, war es zu spät:
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