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Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Titel: Der Fruehling des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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er.
    Schweren Herzens riss er sich los und nahm seine Jacke zur Hand.

    Im Halbdunkel der Kellerwohnung waren die Geräusche der Straße nur gedämpft zu vernehmen. Filomenas Worte waren wie eine Bombe zwischen ihnen eingeschlagen, doch ihr ruhiger und nüchterner Tonfall hatte Maione zu verstehen gegeben, dass es sich um eine schlichte Aussage und nicht um eine Anschuldigung handelte.
    »Aber warum? Ihr Sohn, Gaetano ... warum sollte er so etwas tun?«
    Filomena lächelte und erinnerte ihn an die Sixtinische Madonna von Raffael. Ihre Stimme klang sanft wie die einer Frau, die endlich zur Ruhe gekommen ist.
    »Ich bin auf einem Bauernhof des Vomero aufgewachsen, in einer sehr großen Familie. Wir waren arm, aber glücklich, auch wenn wir’s nicht wussten. Auf dem Land hat man Tag und Nacht zu tun; wer nicht arbeitet, hat nichts zu essen, und wer nicht isst, stirbt. Alles ist ganz einfach. Aber nichts ist leicht.
    Einmal, als ich noch klein war, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, verschwanden nach und nach unsere Hühner. Wir fanden morgens ihre Federn, Blutspuren. Aber man hörte nichts. Vielleicht ein Fuchs oder ein Marder, sagte mein Vater.
    Er stellte eine Falle auf, so eine, die zuschnappt und das Tier fängt. Am nächsten Tag hing an dem Knoten eine kleine schwarze Pfote. Nur die Pfote, sonst nichts. Man sah die Abdrücke scharfer Zähne und der Boden war voller Blut. Der Fuchs hatte sie sich Stück für Stück abgebissen, ohne zu heulen. Wir schliefen direkt neben dem Hühnerstall und hatten nichts gehört.
    Mein Vater erklärte mir, was geschehen war, Raffaele: Der Fuchs hatte sich entscheiden müssen. Er konnte entweder ohne die Pfote weiterleben oder gefangen bleiben. Er hatte seine Wahl getroffen.
    Ich verbringe schon mein ganzes Leben mit angebundener Pfote. Und habe nie daran gedacht, dass ich die Freiheit wählen könnte. Auch als mein Mann noch lebte, war es so, sobald ich allein war, kam mir ständig irgendjemand zu nahe, sei es durch Berührungen oder durch Worte. Das ist kein Leben, glauben Sie mir. So kann man nicht leben.
    Seit wir nur noch zu zweit sind, Gaetano und ich, ist es unerträglich geworden: Mein Chef wollte mich feuern, ein anderer Schurke wollte sich den Jungen vorknöpfen.
    Wir haben wieder und wieder darüber gesprochen, doch keine Lösung gefunden. Dann kam Gaetano eines Abends mit Rituccia an, dem Mädchen von nebenan, und sagte zu mir: »Mama, wir wissen vielleicht etwas, das wir tun könnten.« Und während wir redeten, musste ich an die schwarze Pfote denken, die an der Tür des Hühnerstalls hing, und sah meinen Vater vor mir, wie er den Kopf schüttelte. Da habe ich meine Entscheidung getroffen. Doch allein hätte ich es nicht fertiggebracht. Viermal habe ich das Messer angesetzt und wieder weggelegt. Ich habe Gaetano angesehen, ohne etwas zu sagen. Ich weinte, er weinte; nur Rituccia war gefasst. Aber leichenblass war sie und zuckte nicht einmal mit den Lidern. Auch sie schaute zu Gaetano, und er stand auf und nahm das Messer. Er hat mich befreit. Uns befreit. Er hat das getan, was ich eigentlich tun wollte, Raffaele. Ich habe mich der Pfote entledigt.«

    Die Stille, die auf ihre Worte folgte, umhüllte sie vollständig wie dichter Nebel. Maione kam es vor, als könne er sein Herz schlagen hören: Er empfand tiefes Mitleid für Filomena, Gaetano und Rituccia. Auch für sich selbst.
    Dann wanderten seine Gedanken zu Lucia. Er stellte sie sich in eine enge Zelle eingeschlossen vor, ein Gefängnis aus Erinnerungen; an der eigenen Pfote aufgehängt, nur wegen eines unglückseligen Abends vor drei Jahren. Was tue ich eigentlich hier?, fragte er sich dann.
    Er stand auf, blickte in Filomenas wunderschöne, fremde Augen voller Tränen und sah ihr atemberaubendes Lächeln. In diesem Moment wusste er, dass er Lucia liebte, mehr als damals, als er sie mit sechzehn Jahren zum ersten Mal am Brunnen gesehen hatte, wo sie singend ein Leintuch wusch; dass er seitdem nichts Schöneres mehr gesehen hatte und dass er, wenn er sterben müsste, mit jenem Bild vor den Augen aus der Welt scheiden wollte.
    Er verabschiedete sich von Filomena, sagte ihr Auf Wiedersehen, meinte aber Lebwohl. Sie sagte ihm Lebwohl und wünschte, es wäre ein Auf Wiedersehen.
    Maione verließ die Wohnung, um zurück ins Präsidium zu gehen.
LIX
    Obwohl nur ein paar Stunden vergangen waren, hatten sich die beiden Männer, die sich nun in Ricciardis Büro wiedertrafen, vollkommen verändert.
    Der Kommissar schaute

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