Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Titel: Der Fruehling des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
Vom Netzwerk:
Merkwürdigerweise saß die Mütze noch auf seinem Kopf, zumindest auf der intakten Hälfte, während sie auf der anderen Seite auf dem Stück weißen Schädel und der bloßgelegten und verwesten Hirnmasse auflag.
    Die Passanten sahen das Mädchen ins Leere greifen und gaben nicht darauf acht. Ricciardi hingegen sah sie einen von Todeskrämpfen geschüttelten Arm streicheln und hörte zwischen den zerbrochenen Zähnen den verzweifelten Ruf des Kindes, das um Hilfe bat.
    » Hilf mir, Mama «, wiederholte Antonietta traumverloren. Ricciardi schob sie freundlich von hinten an und sie ging weiter, ohne sich noch einmal umzudrehen.
    Weiter oben, auf Höhe der Baustellen, wo die neuen weißen Gebäude entstanden, tauchten zwischen Angestellten auf dem Nachhauseweg und Frauen, die vom Einkaufen zurückkamen, nach und nach die Männer auf, die an ihrem Arbeitsplatz ums Leben gekommen waren. Ricciardi hielt den Kopf geneigt, Antonietta grüßte sie fröhlich mit ihrem Patschhändchen, ohne die Lebenden von den Toten zu unterscheiden und ohne dass die einen oder die anderen Notiz davon nahmen. Die wahren Gespenster jedoch waren vielleicht gerade sie beide, für alle anderen unsichtbar.
    Antonietta warf dem Jungen und dem Alten, die gemeinsam gestorben waren, eine Kusshand zu; als sie sich allerdings einem erst kürzlich Verunglückten gegenüberfanden, der nach einer gewissen Rachele rief und sagte, dass sie ihn zu ihr gestoßen hätten, machte das Mädchen ganz plötzlich einen Satz zur Seite und versteckte sich hinter Ricciardis Rücken. Was hast du diesmal gehört?, fragte er sich. Welche andere Gefühlsregung? Dann hörst du also noch mehr als ich. In diesem Moment empfand er für das Mädchen unendliches Mitleid und streichelte ihr Gesicht. Sie lächelte ihm zu und ging weiter.
    Allerdings hörte sie nicht auf, sich umzudrehen und ein wenig zu zittern.
LXI
    Ruggero Serra di Arpaja betrachtete von seinem Schreibtisch aus durch das Fenster den Frühling. Die Seidengardinen blähten sich ihm entgegen und glitten dann wieder in ihre ursprüngliche Position zurück, als ob der Wind ihn spielerisch nach draußenlocken wollte. Die Luft roch salzig und nach frischen Blüten.
    Die Strahlen der untergehenden Sonne, die eben hinter dem Posilippo-Hügel verschwand, erfüllten den Raum mit Lichtreflexen, die den müden Mann blendeten. Noch eine schlaflose Nacht, ein weiterer Tag des Wartens.
    Nachdem er sein ganzes Leben lang die ihm durch seine gesellschaftliche Stellung vorgezeichneten Wege gegangen war, hatte er es mit bislang unbekannten Gefühlen zu tun, die nun seine Entscheidungen bestimmten. In der letzten Zeit hatte er Dinge getan, die er sich nie hätte vorstellen können, einen Teil von sich kennengelernt, von dessen Existenz er nichts gewusst hatte.
    In dem äußerst schwierigen Moment an jenem Morgen hatte er sich bemüht, die Form zu wahren: Dunkler Anzug, ein perfekt gebügeltes Hemd, frisch rasiert und gekämmt. Nur seine Augen hinter der goldgerahmten Brille verrieten seine Seelenqual. Emmas Schwangerschaft, die sie ihm nach einer Nacht gegenseitiger Vorhaltungen und Kränkungen offenbart hatte, enthielt für ihn etwas Befreiendes und Unwiderrufliches. Nach dieser Mitteilung würde in jedem Fall nichts mehr so sein wie zuvor.
    Die Sonne hatte ihm eine neue, außergewöhnliche Erkenntnis gebracht: Er liebte seine Frau und ohne sie hatte das Leben keinen Wert. Sollten sie ihn ruhig verhaften, verleumden, seinen Ruf den sogenannten Freunden zum Fraß vorwerfen; wenn Emma ihn verlassen würde, wäre das alles ohne jede Bedeutung.
    Ohne den Blick vom Frühling abzuwenden, der sich von seinem Kummer nicht stören ließ, öffnete er die Schreibtischschublade und nahm den Revolver heraus.Er hatte bereits überprüft, dass er geladen war. Noch eine Nacht, noch einen Frühling ohne Liebe würde er nicht aushalten.
    Er schlüpfte in seinen Mantel. Gehen wir ins Theater, dachte er.
    Zur letzten Vorstellung.

    Emma saß vorm Spiegel und bemühte sich, die Spuren der schlaflosen Nacht zu überpudern. Sie wollte auf keinen Fall, dass Attilio sie weniger schön als sonst zu Gesicht bekäme.
    Ihr war bewusst, dass sie mit dem Theaterbesuch die eisernen Regeln der Calise brach. Aber konnte jemand, der den eigenen Tod nicht vorausgesehen hatte, wirklich über das Schicksal der anderen entscheiden? Und was, wenn die Alte sich von Anfang an geirrt, wenn sie Emma bloß aufgrund eines Fehlers zum Unglück verurteilt hatte?
    Sie versuchte,

Weitere Kostenlose Bücher