Der Fruehling des Commissario Ricciardi
würde Emma ihre Verantwortung vor Augen führen.
Romor wusste, dass sie in die Enge getrieben war und keine Etikette mehr gewahrt werden musste. Er war überzeugt, dass sie sich unter diesen Bedingungen dafür entscheiden würde, ihre Liebe auszuleben. Warum hätte ihr Mann sonst alles daransetzen sollen, ihn davon zu überzeugen, sie zu verlassen? Doch bloß, weil er wusste, dass Emma ihn, Attilio, liebte. Er hatte bei den Frauen nochnie falsch gelegen und würde auch diesmal recht behalten.
Hoffentlich würde auch seine Mutter am nächsten Tag ins Theater kommen. Um seine letzte Vorstellung anzusehen. Seinen Triumph zu genießen.
Noch auf dem Nachhauseweg trägst du deine Arbeit mit dir herum, bist in Gedanken bei den Ermittlungen, dein Kopf ist voller Gesichter, Eindrücke, Stimmen. Du läufst, trittst auf Steine, schnupperst die leichte, nach Wald duftende Brise. Du denkst an die Worte, die du gehört hast und nun ordnen musst.
Dein Weg führt dich an wenigen Lebenden vorbei, die entlang der Mauern nach Hause gehen, und an dem ein oder anderen Toten, der dich ansieht und dir seinen Schmerz entgegenschleudert. Du läufst und schaust nicht hin, gehst als Fremder durch die Welt. Du steigst die Treppen nach oben, öffnest die Tür, hörst den müden Atem der alten Kinderfrau, die friedlich schläft. Du ziehst dich aus, du und die Nacht, ihr seid eins, du nimmst dir vor, heute Abend nicht hinzugehen. Du wirst dich hinlegen und Schlaf finden, genauer gesagt wird er dich finden und dir ein paar Stunden lang einen trügerischen Frieden bescheren, der nur kurze Zeit währt.
Stattdessen gehst du aber doch hin, stellst dich ans Fenster. Vielleicht wird sie wieder dasitzen und sticken, wie um dir unwissend ein Zeichen zu geben, um dich sanft in deinen traumlosen Schlaf zu wiegen.
Doch dein Blick trifft nur auf die dunklen Fensterläden. Niemand spricht mit dir.
Du gehst der Nacht entgegen und weißt, dass deineAugen im Dunklen vergeblich nach Frieden suchen werden. Du suchtest Ruhe. Und fandest das Gegenteil.
Sein Weg führt ihn die Gasse hinauf, sein Schritt ist langsam und schwer. Mit sich schleppt er den Tag, die Woche, das Leben. Er fühlt sich einsam, hat all diese Leute im Kopf, die Liebe suchen und Hass finden, Hass, Groll und Zorn. Seine Umgebung nimmt er nicht wahr, vielleicht würde ihn diesmal auch ein Schrei nicht aufhalten. Heute Abend ist das Laufen zu anstrengend, er sehnt sich nach Frieden.
Die Meeresluft begleitet ihn, streichelt ihm den Rücken, hilft ihm bei seinem Aufstieg. In ihr liegt ein Sommerversprechen, das sie vielleicht auch halten wird. Doch wer konnte schon wissen, wie viele Tote es bis dahin noch geben würde?
Morgen würde man einen Schuldigen finden, der sich heute Abend noch in Sicherheit wiegte, vielleicht schlief oder für immer entschlafen war. Vielleicht tanzten Opfer und Henker im Mondschein, auf einer verwunschenen Lichtung, gemeinsam mit den anderen Toten. Vielleicht tauschten Opfer und Henker die Rollen: Im Schlaf ist alles erlaubt.
Angst und Einsamkeit regierten in Zimmern, die einst voll von ihrem Lachen und nun verödet waren.
Sich an sie zu erinnern, ihr neu geborenes Lächeln, ihre Hand, eine Berührung, die vergessene Nähe. Sich vorzustellen, ihr Gesicht mit zitternder Hand zu streicheln, die blauen Augen, dieselben wie mit sechzehn, am Brunnen.
Ein Abendessen, er, der zu erklären versucht, ihr Finger auf seinem Mund. Und dann Hand in Hand insSchlafzimmer. Sie, die ihm die Pforte zu Körper und Seele öffnet. Vielleicht ein Traum, ein Geschenk der Nacht, des Mondes, der über die Seelen wacht. Vielleicht wird die Luft ihr Versprechen halten und er wird in ihrem Duft neu geboren.
Beim Einschlafen hält er das Leben im Arm: sein Leben, auf seiner Brust. Ein unbekanntes und zugleich so vertrautes Atmen.
LX
Bei Tagesanbruch wussten Ricciardi und Maione, dass dieser Tag entscheidend sein würde. Für das Andenken Tonino Iodices und die Ehre seiner Kinder; für den Seelenfrieden der toten Carmela Calise; für den Ruf der Familie Serra di Arpaja; für das Wohlergehen und vielleicht auch die Karriere Attilio Romors, des Schauspielers, dessen Zukunft vielversprechend, dessen momentane Lage aber schwierig war; für den Nachnamen und das Schicksal von Emmas ungeborenem Kind.
Außerdem würde an diesem Tag ein Geheimnis gelüftet werden. Und das in einer Welt, in der es laut königlicher Verordnung keine Geheimnisse mehr geben durfte, ebenso wenig wie Blut oder
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