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Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Titel: Der Fruehling des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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über Ruggero Serra di Arpaja ließ sich vieles sagen, bloß nicht, dass er sich selbst belog. Er war nicht in diese Lage geraten, weil er seinen Namen, seine Position oder gesellschaftliche Stellung retten wollte. Die Liebe zu seiner Frau hatte ihn dazu bewegt. Derselben Frau, die schon seit langem kaum ein Wort an ihn richtete, sich weder um ihn oder das Haus noch um den Ruf des Namens kümmerte, den sie trug, und ihr außereheliches Verhältnis schamlos zur Schau stellte.
    Und doch liebte er sie. Von ganzem Herzen. Er sah ihr lächelndes Gesicht wieder vor sich, hörte ihr helles Lachen und dachte, dass es das Wagnis wert sei, sich selbst aufs Spiel zu setzen, nur um sie nicht zu verlieren.
    Die beiden Polizisten waren vor dem Tor des Hauses stehen geblieben und redeten mit dem Pförtner, dessen Uniform eleganter war als ihre eigene. Ruggero sah, dass sie ihm einen Umschlag aushändigten und dann weggingen. Worum handelte es sich wohl? Er rief das stets erschrocken dreinschauende Dienstmädchen zu sich und trug ihr auf, das Dokument sofort abzuholen.
    Eine Minute später hielt er eine Vorladung ins Polizeipräsidium in den Händen; sie war für Emma.
    Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit konnte er sich ein Lächeln abringen. Vielleicht war noch nicht alles verloren.

    Da die Polizeistreife, die den Pizzabäcker vorladen sollte, noch nicht wieder eingetroffen war, hatte Ricciardi Maione mitgeteilt, dass er es vorziehe, sich gleich zu Ridolfi, dem Verunglückten, zu begeben. Er wohnte ganz in der Nähe des Präsidiums, in einem Palazzo in der Via Toledo, der seit ein paar Jahren in Wohnungen unterteilt war, denn die alte Adelsfamilie, der er gehörte, befand sich in finanziellen Nöten.
    Obwohl Ricciardi keine sehr hohe Meinung von der Aristokratie der Stadt hatte, empfand er Unbehagen, wenn er sah, wie brutal die alten Adelssitze ihres Innenlebens beraubt worden waren. Er konnte sich dann der unangenehmen Vorstellung nicht erwehren, ein großes totes Tier vor sich zu haben, dessen Kadaver äußerlich noch intaktschien, dessen Eingeweide aber Hunderte von Parasiten bevölkerten.
    Während er den kurzen Weg gemeinsam mit Maione zurücklegte, versuchte er, sich von der starken Gefühlsregung zu befreien, die sich seiner bemächtigt hatte, als er Enrica begegnet war, mit ihr gesprochen, ihr in die Augen geschaut hatte. Seine über Monate hinweg gehegten Träume waren so anders in Erfüllung gegangen, als er es sich vorgestellt hatte.
    Der Pförtner gab sich keine Mühe, seine offenkundige Feindseligkeit zu verhehlen: Ja, Herr Ridolfi sei zu Hause. Er habe sich am Bein verletzt. Ja, sie dürften hochgehen und nein, es gebe keinen Fahrstuhl. Letzter Stock, Wohnungsnummer einundzwanzig.
    Schnaufend erzählte Maione dem Kommissar, was ihm die Petrone gesagt hatte: Ridolfi war Lateinlehrer am Gymnasium. Er ging seit etwa einem Jahr zur Calise. Aufgrund eines Unfalls war er verwitwet; seine Frau war zu Hause bei der Arbeit mit einem Lösungsmittel verunglückt; sie war verbrannt. Die Calise sollte ihm sagen, ob es ihm gelingen würde, ein Päckchen mit Familienandenken wiederzufinden, Dinge ohne finanziellen Wert, an denen er aber sehr hing und die nach dem Unglück nicht wieder aufgetaucht waren. Er war – zur großen Freude des Unternehmens Calise und Petrone – überzeugt davon, dass ihm die Stimme seiner Frau mittels der Karten der Alten sagen würde, wo das Päckchen war.
    Die Pförtnerin hatte erzählt, dass Ridolfi jedes Mal zu weinen anfing und dass er ihrer Meinung nach gestürzt sei, weil er die Augen voller Tränen gehabt und die Treppenstufen deshalb nicht gesehen hatte. Ein ordentlicher,feiner Mensch. Das war vielleicht ein Schreck gewesen; einen ganzen Treppenabsatz war er an jenem Morgen heruntergepurzelt.
    Sie klopften an die angelehnte Tür und warteten das »Herein« ab. Dann standen sie in einem kleinen, sauberen und hübsch eingerichteten Wohnzimmer. Ridolfi saß auf einem grünen Satinsessel, sein linkes Bein, das geschient und verbunden war, lag erhöht auf einem Hocker. In den Händen hielt er ein Buch.
    »Bitte, setzen Sie sich. Entschuldigen Sie, dass ich nicht aufstehe. Mit wem habe ich das Vergnügen?«
    Er hatte Maiones Uniform bemerkt, doch sein Gesicht zeigte keine Spur von Beunruhigung. Ricciardi ordnete ihn problemlos ein: Fünfzig Jahre alt, respektabel, doch nicht vornehm, mit schwarzer Krawatte und steifem Kragen, einer verschlissenen Hausjacke. Sein Gesicht war ebenmäßig, seine Augen

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