Der Fruehling des Commissario Ricciardi
lassen. Sie war zu der Überzeugung gelangt, dass es um einen Zwischenfall gehen musste, den sie vor kurzem beobachtet hatte: Vier jugendliche Faschisten hatten auf der Straße einen alten Mann angerempelt und als Verräter beschimpft. Nichts Tragisches, aber man konnte nie wissen, was noch alles passieren würde.
Da stand sie nun dem Mann gegenüber, dessen Profil sich jeden Abend pünktlich zur selben Uhrzeit auf der anderen Straßenseite am Fenster abzeichnete und der ihr in all ihren Träumen und geheimsten Wünschen begegnete. Blickte in seine glasklaren Augen, in denen sich das Herz zu spiegeln schien.
Maione hob den Blick vom Notizbuch und blinzelte. Im Büro herrschte eine unnatürliche Stille. Auch die Geräusche des Platzes, die sonst durchs Fenster drangen, waren verstummt. Das kam zu dieser Tageszeit nur selten vor.
Der Frühling kam voll auf seine Kosten. Er liebte es, wenn das Blut leise in den Adern pulsierte.
Der Brigadiere sah die beiden an wie ein Zuschauer, der darauf wartet, dass etwas passiert. Dann hüstelte er unsicher.
Das Geräusch kam einer Explosion gleich. Ricciardi sprang mit einem Satz von seinem Stuhl auf, die rebellische Haarsträhne fiel ihm in die Stirn, seine Ohren waren purpurrot. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder und öffnete ihn erneut. Zu guter Letzt sagte er »bitte, setzen Sie sich«, aber seine Stimme versagte ihm den Dienst. Er räusperte sich laut und wiederholte die Aufforderung.
Enrica reagierte nicht, sie war wie betäubt. Sie konnte nicht glauben, was sie sah. Einen Moment lang dachte sie an Flucht, doch stattdessen blieb sei wie angewurzelt stehen und hielt ihre Handtasche mit beiden Händen schützend vor die Brust, wie um sich zu verteidigen. So stand sie da, mit ihrem von zwei Nadeln gehaltenen Hut, einem wadenlangen Rock und flachen Schuhen. Innerlich verwünschte sie sich dafür, nichts Moderneres angezogen und sich nicht geschminkt zu haben.
Ricciardi war neben dem Schreibtisch stehen geblieben, er wusste nicht, ob er sich nach vorn oder hinten bewegen sollte. Auch ihm kam als Erstes der Gedanke an Flucht: Er erwog dafür das Fenster, weil Enrica die Tür verstellte. Flehend schaute er zu Maione, der Ricciardi noch nie in einem solchen Zustand gesehen hatte.
Der Brigadiere erwachte und hauchte dem surrealen Gemälde vor seinen Augen endlich Leben ein.
»Bitte setzen Sie sich, Signorina. Wir brauchen nur ein paar Informationen. Darf ich Ihnen Commissario Ricciardi vorstellen; er hat einige Fragen an Sie.«
XXXVII
An der Abzweigung zur Gasse blieben die Polizisten Camarda und Cesarano kurz stehen. Camarda sah noch einmal auf dem Zettel nach, den er in der Hand hielt, und nickte seinem Kollegen zu. Daraufhin bogen sie ab und näherten sich ihrem Ziel, einer Pizzeria.
Sie waren entspannt, denn es ging nur um eine simple Vorladung ins Präsidium zu Informationszwecken, vielleicht ein Zeuge oder so. Es war der letzte Auftrag dieses Tages, eine kinderleichte Sache, danach war ihre Schicht zu Ende und sie würden nach Hause zu ihren Familien gehen.
Mittlerweile saßen beide auf ihren Plätzen. Über ihnen thronte Maione wie der Schiedsrichter in einem Boxring. Die physischen Hindernisse waren aus dem Weg geräumt, die mentalen jedoch keineswegs. Ricciardi dachte nicht daran zu sprechen, Enrica saß da wie einbalsamiert. Dem Brigadiere blieb nichts anderes übrig, als sich erneut einzuschalten.
»Nun also, Fräulein Enrica Colombo, Via Santa Teresa degli Scalzi einhundertdrei, sind Sie das?«
Ganz langsam wandte Enrica dem Brigadiere ihr Gesicht zu.
»Guten Tag, Brigadiere. Da Sie mir die Vorladung zugestellt haben und ich die Empfangsbescheinigung unterzeichnet habe, wird das Ganze wohl etwas zu bedeuten haben. Ja, das bin ich.«
Ihr Ton war kühler als beabsichtigt, dabei hatte sie allen Grund, wütend zu sein. Nachdem sie so lange darauf gewartet hatte, dass er die Initiative ergreifen würde, konnte sie es jetzt einfach nicht ertragen, das Ziel ihrer Sehnsüchte dank einer »Vorladung zu Informationszwecken« kennenzulernen, wie es auf dem Schreiben stand, das ihr morgens zugestellt worden war.
Maione, der keine formalen Anhaltspunkte mehr hatte, auf die er sich hätte stützen können, schaute Ricciardi an und wartete darauf, dass er anfangen würde, Fragen zu stellen. Der jedoch machte keinerlei Anstalten dazu und saß stattdessen stumm auf seinem Platz. Der Brigadiere war beunruhigt, konnte sich jedoch nicht dazu entschließen zu fragen,
Weitere Kostenlose Bücher