Der Frühling - Hyddenworld ; 1
überprüfen. Schließlich watete er doch ins Wasser und stellte sich neben den Pfosten.
Der Pfosten war acht Fuß hoch, sein Kopf reichte über die Sechs-Fuß- oder Ein-Meter-Achtzig-Marke hinaus.
Er nahm die Skala genauer in Augenschein, doch es bestand kein Zweifel. Die Einteilung war in den gesetzlichen Maßen erfolgt, welche die Menschen in England verwendeten und welche die Hydden vor einem Jahrhundert übernommen hatten.
»Ich bin gewachsen, als ich durch den See geschwommen bin, und … und …«
Er brachte es nur schwer über die Lippen.
»Ich bin ein Mensch geworden!«
Diese Erkenntnis schockierte ihn so, dass er sich an dem Pfosten festhalten musste, während er mit erstickter Stimme rief: »Ein Los, schlimmer als der Tod! Ich, Stort, ein Hydden durch und durch, bin jetzt ein Menschenmonstrum. Das bedeutet, dass es den Bedwyn Stort, wie man ihn kennt, nicht mehr gibt.«
Just in diesem Augenblick der niederschmetternden Einsicht sah er eine geisterhafte Erscheinung am Ufer entlang auf sich zukommen.
Es war, so schien es jedenfalls, eine weibliche Gestalt, und sie bummelte nicht. Nein, sie näherte sich dem unschuldigen und nackten Stort in beträchtlichem Tempo.
»Der werde ich mich nicht ausliefern«, rief er, wandte sich von der Erscheinung ab und rannte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war.
Er rannte noch schneller, als er das unverwechselbare Trippeln weiblicher Schritte vernahm, die ihm durch Schlamm und Kies folgten. Doch sie kamen immer näher, bis sich eine Hand nach ihm ausstreckte und ihn berührte, ja sogar streichelte. Vor Schreck wie erstarrt blieb er stehen.
Zu keiner anderen Bewegung fähig, drehte er sich zu ihr um, während sie ihre Arme und Beine um ihn schlang und mit ihrem großen und verwirrenden Körper Mond und Sterne verdunkelte. Er bekam keine Luft mehr und taumelte unter ihrem Gewicht nach hinten.
Er landete hart im schlammigen Kies, schlug wild nach ihrer seltsam klammernden Gestalt und glaubte zum zweiten Mal in dieser Nacht zu ersticken. Doch endlich gelang es ihm, den Kopf aus ihrem feuchten Haar zu ziehen, und da sah er, was er in Wirklichkeit vor sich hatte: ein großes, viereckiges Stück Blisterfolie, versehen mit Klebeband, das mit lästiger Beharrlichkeit an ihm haften blieb.
»Ach! Ein Irrtum meinerseits!«, stieß er erleichtert hervor, und sogleich verwandelte sein angeborener Optimismus das Desaster in einen Erfolg. »Das ist ja gar kein zügelloses Frauenzimmer, sondern eine Lebensretter! Dieses ausgezeichnete Material von Menschenhand wird mich warm halten und mir helfen, die Nacht zu überstehen!«
Er wickelte es sich dankbar um den Leib, zog sich vom unwirtlichen Ufer in höher gelegenes Gelände zurück und kauerte sich dort in Gras und Ginster. So vor der Kälte geschützt, wurde ihm bald wieder wärmer, und ein unerklärliches Gefühl der Zufriedenheit überkam ihn.
Er atmete tief durch und begann, über den Sinn des Lebens nachzudenken und darüber, was es bedeutete, jetzt ein Mensch und früher eine Hydden gewesen zu sein, und vieles andere mehr.
So kam es, dass Bedwyn Stort, Erfinder und Schreiber, sich zu einer Reise in sein inneres Selbst aufmachte, die zu der größten Erleuchtung in seinem noch relativ jungen Leben führte.
Er erkannte, dass es zwischen einem Menschen und einem Hydden keinen Unterschied gab bis auf den, den der Geist machte, dieserschelmische, unbeherrschbare Geselle, von dem sich die Sterblichen ihr Leben lang blenden ließen …
»Alles ist Illusion«, sagte er sich. »Ich bin vor allem das, was ich zu sein
glaube
. Ich bin ein Mensch, ich bin ein Hydden, ich bin beides, und ich bin keines von beiden.«
Wie lange diese erstaunlichen Einsichten seine Gedanken beschäftigten, vermochte er nicht zu sagen. Der Mond jedenfalls zog während dieser Zeit der Entdeckungen am Himmel weiter seine Bahn, und auch die Sterne wanderten.
Er verspürte die Ehrfurcht dessen, der erkennt, dass er zwar noch so verletzlich und ohne Freund ist wie immer, dass seine Einsamkeit und seine Leiden aber nichts sind im Vergleich zum Firmament mit seinen Sternen, dem Mond und den Planeten. Und während er Letztere mit neuem Staunen betrachtete, wich auch die restliche Kälte von ihm und machte einem Gefühl der Wärme und des Einsseins Platz.
In diesem Augenblick erkannte er, dass es gar nicht so schwer war, wie es schien, die Henges als Portale zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Hydden zu benutzen. Es kam nur darauf
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