Der Frühling - Hyddenworld ; 1

Titel: Der Frühling - Hyddenworld ; 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag

Vom Netzwerk:

Glück spendeten Mond und Sterne genug Licht, dass er etwas sehen konnte.
    Er fand verschiedenen Unrat, der an Land gespült worden war, darunter einige Gegenstände, die ihm große Rätsel aufgaben und zunehmend Unbehagen bereiteten. Eine winzige Cola-Flasche, eine klitzekleine und durchweichte Streichholzschachtel, einen zerbrochenen Kugelschreiber, wie für Zwerge gemacht, und dann einen gelben Kunststoffhelm von der Art, wie ihn Menschen auf Baustellen trugen, nur dass dieser hier viel kleiner aussah als die anderen, die er gelegentlich schon gefunden hatte.
    Der Helm hatte eine weitere, sehr merkwürdige Eigenschaft, die ihn schwindeln machte. Da er wusste, dass die meiste Körperwärme über den Kopf verlorengeht, probierte er ihn auf und stellte zu seiner Verblüffung fest, dass er wie angegossen passte. Er behielt ihn auf, denn etwas Bedeckung war besser als überhaupt keine, und setzte seine nächtliche Wanderung fort, im Gehen bemüht, den schrecklichen Gedanken, der ihn quälte, in den Hinterkopf zu verbannen.
    »Nein«, murmelte er unablässig. »Ausgeschlossen! Nein, nein und nochmals nein!«
    Sein rechter Fuß stieß gegen etwas Weiches, Klammes und Vertrautes. Glücklich kniete er sich hin. Er hatte seine verschollene Hemdhose gefunden.
    »Du ungezogenes Ding!«, schalt er sie, als sei sie ein lebendiges, vernunftbegabtes Wesen. »Sehr ungezogen von dir, dich einfach so davonzumachen.«
    Er stand auf, hielt sie ins Mondlicht und sah zu seinem Bedauern, dass sie zerrissen und nicht mehr tragbar war, als sei sie von einem Ungeheuer zerfetzt worden. Und wie alles andere um ihn herum schien sie auf die halbe Größe geschrumpft zu sein.
    Kein lebender Sterblicher war vom Streben nach Wahrheit und dem Wunsch, zu lernen und zu verstehen, mehr beseelt als Bedwyn Stort. Doch die Wahrheit, der er nun ins Auge blicken musste, war unvorstellbar und obendrein schrecklich. Wenn seine Hemdhose nur noch halb so groß war wie vor ein oder zwei Stunden, so musste er sich nach dem Grund fragen.
    Er kniete sich wieder auf den Boden, breitete die Fetzen der Hemdhose aus und setzte sie zusammen, damit er sehen konnte, welche Teile fehlten.
    Es fehlte nichts. Sie war in Fetzen, aber komplett.
    Er stand wieder auf und warf die vermaledeite Hose zurück in den See. Wenn er sie nicht sah, so sagte er sich, musste er wenigstens nicht über sie nachdenken.
    Doch im selben Moment, als sie aufs Wasser fiel, drehte sich der launische Wind, fuhr in den Stoff und blähte ihn auf. Die Hemdhose nahm Kurs hinaus auf den See wie ein Geisterschiff in der Nacht.
    Stort begriff, dass das bisher Gesehene nur zwei Schlussfolgerungen zuließ, die beide eigentlich unmöglich waren: Entweder waren die Hemdhose und all die anderen Gegenstände, auf die er gestoßen war, geschrumpft … oder …
    »Nein, das kann nicht sein!« … oder er selbst war gewachsen.
    Fieberhaft ließ er die Ereignisse des Abends in Gedanken noch einmal an sich vorüberziehen und suchte nach Hinweisen darauf, was geschehen war.
    Er brauchte nur Augenblicke, um zum Kern der Sache vorzustoßen.
    Was hatte er getan? Er war aus dem Henge hinausgeschwommen, und zwar bewusst auf der Nordostseite, die, wie jeder, der sich mit Henges beschäftigte, sehr genau wusste, unter bestimmten Umständen ein Portal in die Menschenwelt sein konnte. Doch diese alte Kunst des Reisens war in Englalond vor vielen Jahrhunderten in Vergessenheit geraten!
    War es möglich, dass er sie zufällig wiederentdeckt hatte und sich dabei, ohne es zu merken, in etwas Größeres verwandelt hatte, als er zuvor gewesen war?
    »Nein, nein! Das wäre ja fürchterlich!«
    Stort ging im Kreis, in immer größeren Kreisen, als sei er auf der Suche nach seinem früheren Selbst.
    Dann ging er den Weg zurück, den er gekommen war, bis zu der Stelle, wo die Streichholzschachtel und die Cola-Flasche lagen. Im Vergleich zu seiner Hand waren sie in der Tat halb so groß, wie sie eigentlich sein sollten.
    Noch nicht bereit, sich davon überzeugen zu lassen, lief er am einsamen Ufer auf und ab und suchte nach einem unumstößlichen Beweis. Leider war er nicht schwer zu finden.
    Das Gelände wurde häufig überflutet, daher hatten die Menschen ein oder zwei Meter im Wasser einen weißen Pfosten mit einer Messskala in Fuß und Zoll aufgestellt, an der man Veränderungen des Wasserstands ablesen konnte.
    Der Mond schien hell, die Skala war deutlich zu sehen.
    Entsetzt starrte Stort auf den Pfosten, unwillig, seine Theorie zu