Der Frühling - Hyddenworld ; 1
hier oder in der Nähe zeigen wird, noch bevor die Nacht vorüber ist.«
Er blickte zutiefst erschrocken.
»Während wir hier auf das Erscheinen meiner Nachfolgerin warten«, fuhr sie gutgelaunt fort und nickte in Richtung des Plastikmüllsacks, »schlage ich vor, Sie erzählen mir von ihm, Master Brif. Wer genau ist er? Er muss eine starke Persönlichkeit besitzen, wenn sich erfahrene Hydden wie Sie von ihm so viele Meilen von zu Hause fortlocken lassen. Außerdem beweist er Verstand und Fantasie. Er schert sich nicht darum, was andere von ihm denken, und schützt sich mit einem Plastiksack vor der Nässe.«
Brif blickte finster zu dem schwarzen Sack und der langen, schmalen Nase, die daraus hervorlugte.
»Man hat mir zu verstehen gegeben«, erwiderte er, »dass Sie selbst es waren, die ihm aufgetragen hat, uns hierher zu führen.«
Imbolc setzte eine Unschuldsmiene auf und wich einer Antwort aus, indem sie fragte: »Kennen Sie ihn schon lange?«
»Nicht sehr lange«, antwortete Brif knapp.
»Aber er ist doch ein Hydden mit einer gewissen Erfahrung?«
»Ganz im Gegenteil.« Brif schüttelte den Kopf. »Er ist elf Jahre alt und in der wirklichen Welt völlig unerfahren.«
Imbolc blickte noch interessierter. »Und dennoch habt ihr euch alle von ihm hierher führen lassen?«
»Er kann sehr … überzeugend sein«, antwortete Brif widerstrebend, aber nicht ohne einen Hauch Bewunderung in der Stimme.
»Weiter, Master Brif, weiter.«
In seinem Gesicht spiegelten sich widerstreitende Gefühle, von denen eines schließlich die Oberhand gewann. Es war schlichte Erregung. »Er sagt – und er ist einer, der meint, was er sagt, und fest davon überzeugt ist, dass er recht hat –, also er sagt, dass ein, na ja, dass
der …
ich will sagen, er ist sich ziemlich sicher, dass …«
»Wer, Master Brif? Wer
der?«
»Er behauptet«, raunte der Schreiber, »dass jemand, der für uns alle von großer Bedeutung ist, noch heute hier erscheinen wird. Er behauptet, Sie hätten es ihm gesagt!«
»Tatsächlich?«, sagte Imbolc vieldeutig. »Und wie bedeutend ist dieser Jemand?«
»Das wissen Sie wahrscheinlich besser als ein bescheidener Schreiber wie ich«, erwiderte Brif. »Aber da Sie schon fragen, will ich Ihnen nach bestem Wissen und Gewissen antworten. Der Zeitpunkt, die schlechte Witterung und der Umstand, dass Sie in irgendeiner Weise mit der Sache zu tun haben, sagen mir, dass wir einen Riesengeborenen treffen werden. Habe ich recht?«
»Wenn Sie recht hätten«, erwiderte Imbolc, »müsste es sich um den einen handeln, der laut Prophezeiung und Überlieferung die Erde und dadurch die ganze Welt retten wird.«
Sie verfielen in Schweigen und sannen beide über dieses Geheimnis nach. Wieder nickte sie zu dem regsamen Plastiksack hinüber.
»Erzählen Sie mir von ihm. Wie ist er denn so?«
Brif seufzte, schüttelte den Kopf, als könne er nicht fassen, in welch merkwürdigen Zeiten er lebe, und antwortete schließlich mit demselben erregten Zittern in der Stimme wie zuvor: »Um die Wahrheit zu sagen, bin ich in meinem ganzen Leben noch nie jemandem begegnet wie ihm. Ja, ich halte ihn für den ungewöhnlichsten Hydden, der mir jemals untergekommen ist!«
11
UNWETTERWARNUNG
J ack saß allein im Warteraum eines Ärztehauses in Thirsk, einem kleinem Marktflecken im Vale of York, ein paar Meilen östlich der Autobahn nach London.
Es war das Ärztehaus, dessen Dienste das Kinderheim regelmäßig in Anspruch nahm und das es nun dazu benutzte, Jack in die Obhut einer anderen Behörde zu übergeben. Das Problem war nur, dass die Dame, die ihn abholen und nach London bringen sollte, noch nicht eingetroffen war. Schlechtes Wetter behinderte den Verkehr auf der Autobahn, aber die Dame hatte von ihrem Mobiltelefon aus angerufen und bestätigt, dass sie auf dem Weg sei.
Das Ärztehaus hatte eingewilligt, auf den Jungen aufzupassen, solange er auf seine Weiterreise nach Süden wartete.
Jack saß mit ausdruckslosem Gesicht da und vertraute offenbar darauf, dass ihn schon jemand abholen würde. Draußen in dem kleinen Hof bogen sich die Bäume im böigen Wind, und Regentropfen zeichneten schräge Muster an die Fensterscheibe. Drinnen war alles in bester Ordnung.
Eine ganze Weile geschah nicht viel, bis sich auf einmal die Stirn des Jungen in Falten legte. Er lockerte den Riemen seines Lederrucksacks und griff hinein. Er fand, was er suchte, hielt noch einen Augenblick inne und überlegte, ehe er einen Entschluss fasste und
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