Der Frühling - Hyddenworld ; 1
Zumal meine Nachfolgerin möglicherweise das Ende der Erde, wie wir sie kennen, verhindern muss …«
»Geht das schon wieder los!«, stöhnte Brif resigniert.
Sie wandte sich von ihm ab und blickte zu den anderen. Dabei bemerkte sie, dass sich Stort einen schwarzen, von den Menschen ergatterten Plastikmüllsack über den Kopf gestülpt und seine lange, schmale Nase durch ein Loch darin gesteckt hatte, damit er Luft bekam. Etwas so Merkwürdiges hatte sie selten gesehen.
»Ist das der Junge, der euch führt?«, fragte sie, ohne zu verraten, dass sie seinen Namen bereits kannte.
»Bitte fragen Sie mich nicht nach ihm«, stöhnte Brif. »Es ist … kompliziert. Er ist kein Knüppelmann wie die anderen. Er ist … nein, ich möchte jetzt nicht darüber sprechen. Ich erkläre es Ihnen später. Nur so viel: Er ist schuld daran, dass wir mitten in einem Unwetter hier festsitzen, an diesem trostlosen Ort.«
Imbolc musterte den Jungen mit noch größerem Interesse.
»Wenn dem so ist«, sagte sie leise, »bin ich möglicherweise seinetwegen hier. Also erzählen Sie mir von ihm.«
»Später«, wiederholte Brif stirnrunzelnd.
»Hm«, machte sie, auf einmal nachdenklich geworden, mit den Augen wieder bei Stort und seinem Müllsack.
»Sie sagten gerade«, murmelte Brif und holte sie in die Gegenwart zurück, »Sie seien auf der Suche nach der nächsten Friedensweberin.«
»Ich sagte, ich sei auf der Suche nach meiner Nachfolgerin. Das heißt nicht, dass sie eine Friedensweberin sein wird. Ist Ihnen nie in den Sinn gekommen, dass in den unruhigen Jahren, die vor uns liegen, eine Friedensweberin nicht unbedingt das ist, was wir am dringendsten brauchen?«
»Aber ich dachte, Ihre Nachfolgerin hätte dieselbe Aufgabe?«, erwiderte Brif, nun vollends verwirrt.
Er starrte sie an. Sein Herz klopfte, und ihn beschlich eine böse Vorahnung, was sie als Nächstes sagen würde. Wenn sie es tat und wenn sie recht hatte, hieße das, dass ihnen allen schwere Jahre bevorstanden, die ihnen große Opfer und viel Mut abverlangen würden. Er kannte die Mythen und Legenden so gut wie jeder Lebende und begriff daher, dass es nur eine gab, die die Nachfolge einer Friedensweberin antreten konnte, ohne eine zu sein – und diese Vorstellung war nicht angenehm.
»Sie meinen doch hoffentlich nicht …?«, flüsterte er mit zitternder Stimme, wagte den Gedanken aber nicht zu Ende zu führen.
»Ich meine«, sagte Imbolc bestimmt, »dass meine Nachfolgerin eine
Schildmaid
sein wird.«
Selbst sie sprach das Wort nur mit einer gewissen Ehrfurcht aus.
Master Brif schluckte und schielte nervös zu den anderen, um zu sehen, ob sie lange Ohren gemacht hatten. Zum Glück offenbar nicht.
Schildmaiden waren, wie es hieß, nicht so gütige und verständige Wesen wie Friedensweberinnen. Sie waren wild und kriegerisch und ließen sich von niemandem zum Besten halten, gleich ob Hydden oder Mensch, Frau oder Mann, Jung oder Alt. Wenn eine Schildmaid auf der Jagd war, wurde die Erde, so hieß es, ein freudloser und unberechenbarer Ort. Nicht dass Brif, oder irgendein anderer Lebender, dergleichen persönlich erlebt hätte, doch er wusste davon aus seinem lebenslangen Studium der Mythen und Legenden. Vom Hörensagen wusste er, dass zum letzten Mal vor über zweitausend Jahren eine Schildmaid über die Erde geflogen war.
»Sie glauben, dass Sie heute hier erscheinen wird?«, erkundigte er sich mit zittriger Stimme.
»Es wäre möglich. Und wenn, dann wären meine Tage auf dieser Erde knapper bemessen, als ich dachte.«
»Aber kein vernünftiger Hydden, geschweige denn eine Schildmaid, würde an einem solchen Tag außer Haus gehen.«
Ein Blitz zuckte, ein Donner grollte.
»Wer sagt denn, dass sie eine Hydden sein muss? Der Spiegel aller Dinge macht solche Unterschiede nicht.«
Brif war wie vor den Kopf geschlagen. »Sie meinen, sie könnte ein Mensch sein?«
Imbolc lehnte sich vorsichtig mit dem Rücken gegen die feuchte Backsteinwand der Unterführung, um bequemer zu sitzen. Derweil verdunkelte sich dieser so merkwürdige Tag noch mehr. Wieder erhellte ein Blitzstrahl ihre kauernden Gestalten, und der Donner ließ sie alle zusammenzucken. »Ich halte es für möglich«, räumte sie ein und verspürte jene Art von Erleichterung, die sich einstellt, wenn man weiß, dass die Lösung eines seit langem bestehenden Problems näher rückt. »Ja, in der Tat halte ich es für sehr gut möglich, dass sie ein Mensch ist. Und ich habe das Gefühl, dass sie sich
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