Der Fuenf-Minuten-Philosoph
tot erklärt, da die Menschen aus diesen und anderen Gründen den Glauben an ihn verloren.
Wenn Gott starb, dann auch der Mensch. Der Sozialpsychologe und Philosoph Erich Fromm (1900–1980) meinte dazu: »Im 19. Jahrhundert konnte man sagen: Gott ist tot. Im 20. Jahrhundert muss man sagen, der Mensch ist tot.« Fromm deutete damit eine Zeitenwende in unserer Kultur an, in der nicht nur Rationalismus und Wissenschaft die überlieferten Ansichten über Gott wie auch den Glauben als die Fähigkeit des Geistes, Gott zu erfassen, bedrohten. Bedeutend ist nicht der Tod Gottes und der Niedergang des Glaubens, sondern der Wandel in unserem Verständnis beider. Der »Tod Gottes« ist der Untergang einer irrigen Vorstellung und des kulturellen Umfelds, das sie hervorgebracht und aufrechterhalten hat. Nietzsche, der Rationalismus und die Wissenschaft haben das Tor zum Existenzialismus und Säkularismus aufgestoßen. Der wohl deutlichste Hinweis auf diese Entwicklung in der christlichen Religion ist die Entmystifizierung der Schrift: Bei der Betrachtung der Bibel verlor deren mystisches Element an Bedeutung, um ein klareres Bild von ihren historischen Hintergründen zu gewinnen. Wir bewegten uns zu einem Glauben hin, zu dem Dietrich Bonhoeffer stets gedrängt hatte: zum »religionslosen Christentum«. Diese Bewegung berührte praktisch alle Religionen.
Die althergebrachte Vorstellung von einem Fleisch gewordenen Gott mit allen menschlichen Kennzeichen wich für viele der Vorstellung von einem Gott als reinem Geist, als etwas, das von keiner Theologie definiert und von keinem Glaubensbekenntnis formuliert werden kann. Auch wenn Evolutionsbiologen auf diese Anschauung Jagd machen mögen, so ist sie im Bewusstsein von Millionen doch noch immer quicklebendig. So fragte der amerikanische Zeitungskolumnist Irv Kupcinet (1912–2003) zu Recht: »Was kann man über eine Gesellschaft sagen, die behauptet, Gott sei tot und Elvis lebe?«
War die Menschheit neben einer biologischen auch einer spirituellen Evolution unterworfen?
Die Ideen, die sich unter dem Begriff der »spirituellen Evolution« subsumieren lassen, sind vielfältig und schließen allgemeine Vorstellungen wie die einer zyklischen Kosmologie oder auch spezielle und individuelle wie die einer »Epigenese« ein, einer philosophischen oder theologischen Hypothese, wonach vom menschlichen Geist der uranfängliche schöpferische Antrieb ausgehe, der alle Entwicklung der Menschheit vorantreibe.
Die spirituelle Evolution als zyklische Kosmologie beruht auf der Überlieferung alter Kulturen vom Ende eines Goldenen Zeitalters, von Mythen eines uranfänglichen Paradieses, die das kollektive Gedächtnis von Stammesgesellschaften prägten und die Geschichte hindurch weitergereicht wurden. Nach seiner Vollendung kehrt der Zyklus des Weltenlaufs zu seinem Anfang – dem »wiedergewonnenen Paradies« – zurück. Ein Beispiel ist die hinduistische Vorstellung der vier Yugas oder »Zeitalter«, gewaltiger Zeiträume, deren Dauer sich an astrologischen Zyklen bemisst. In der sich entwickelnden Spiritualität durchläuft die Menschheit nach dem Kali Yuga, dem finsteren Zeitalter des Verfalls und Abrückens von Gott, die anderen Yugas bis zum Satya Yuga, dem Goldenen Zeitalter, von dem aus der Kreislauf erneut beginnt. Der hinduistische Yogi und Guru Yukteswar Giri (1855–1936), der als Jnanavatar, als Inkarnation der Weisheit, verehrt wurde, schrieb dazu: »Da das finstere Zeitalter des Kali längst vergangen ist, greift die Welt nach spirituellem Wissen.« Ähnliche Anschauungen zu einer spirituellen Evolution in »großem Maßstab« finden sich beispielsweise im Buddhismus, der Maya-Kosmologie und der Kabbala des Isaak Luria (1534–1572).
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»›Wohin ist Gott?‹, rief er. ›Ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet, – ihr und ich. Wir alle sind seine Mörder … auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot!‹«
Friedrich Nietzsche (1844–1900)
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Nach der Theorie der »Epigenese« beruht das Konzept der spirituellen Evolution auf dem Glauben, dass die Menschheit individuell und kollektiv am laufenden Schöpfungsprozess beteiligt sei: Wir bauen alle auf bereits Geschaffenem auf, leisten aber jeder jeweils einen einzigartigen Beitrag, dessen Wert sich an der Stufe unserer Spiritualität bemisst. Wir entwickeln uns geistig in dem Maß, in dem wir uns unserer schöpferischen Intelligenz bewusst werden, denn je Bedeutenderes im Fokus steht, desto
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