Der Fuenf-Minuten-Philosoph
(1898–1963)
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Der Begriff »Seele« steht klar für einen beständigen und wesenhaften Teil unserer Zusammensetzung, der in den buddhistischen Avadanas (Sagen der Heiligen) als etwas von Geburt an Vorhandenes präsentiert wird: »Duft ist das Wesen der Blüten, Öl ist im Sesam enthalten … und in gleicher Weise erkennt der Weise, dass die Seele dem Menschen angeboren ist.« Auf verschiedene Weise fassen Philosophie und Religionen die individuelle Seele als etwas auf, das sich auf eine umfassendere spirituelle Wesenheit bezieht oder Teil von ihr ist, so auf Platons »Weltseele«, auf den allgegenwärtigen Gott oder den Weltgeist. Nach der Anschauung der Romantik strebt die Seele danach, in die Natur einzutauchen und mit ihr eins zu werden. Der Rationalismus, der die Existenz der Seele als spirituelle Wesenheit verneint, erkennt gleichwohl deren Kennzeichen, insbesondere den Willen, die Vitalität, die Freude, die Geisteskraft und das Gedächtnis.
Ob sie als Eigenschaft des Bewusstseins, des Geistes oder von beidem begriffen wird: Wir könnten durchaus eine Seele haben, die unseren leiblichen Tod überdauert, aber dafür gibt es im Diesseits keine belastbaren Hinweise. Selbst wenn, dann erinnert uns das Bewusstsein für uns selbst an etwas in uns, dass das Wesen ist, das Lama Anagarika Govinda (1898–1985) den »tiefen und verborgenen Quell unseres Seins« nannte, verbunden mit dem Hinweis, dass die Größe unserer Seele nicht in der Unwandelbarkeit, sondern in ihrer Wandlungsfähigkeit liege. Sie ermögliche es uns, mit den Klängen aller Sphären des Universums zu erklingen.
W ohin gehen der Geist oder die Seele nach dem Tod?
Alle Religionen lehren, dass die »gute« Seele eine letzte Bestimmung habe. Einige Bezeichnungen für diese deuten auf einen konkreten Ort hin, so Himmel, Paradies, das Haus unseres Vaters, die Wohnstatt Gottes, das Reich Gottes, die Stadt Gottes, Walhalla, die elysischen Gefilde, Avalon usw. Andere Namen sind eher abstrakt wie Nirwana, Utopia, ewige Seligkeit oder Verzückung. Dagegen landet die »sündige« Seele womöglich beim Teufel im Jenseits, was ebenfalls auf einen speziellen Ort verweist, in der Unterwelt, der Hölle, dem Hades, dem Sündenpfuhl, der Gehenna, dem Ort der Toten, dem Orkus, Dis, Avernus, Tartarus, Erebus oder dem skandinavischen Niflheim, dem hinduistischen Naraka oder der buddhistischen Avichi -Hölle. Die Vorstellungen der Unterwelt beinhalten bisweilen einen Zustand ewiger Qualen oder ewigen Elends. In einigen Überlieferungen verweilt die Seele bis zu ihrer endgültigen Aburteilung in einem Zwischenstadium wie der zoroastrischen Brücke des Vergelters, dem katholischen Fegefeuer, dem jüdischen Scheol oder der hinduistischen und buddhistischen Hierarchie der Oberen Reiche – zeitweilige Erfahrungszustände, in denen man auf die nächste Wiedergeburt als Teil des langen Zyklus aus Geburt, Tod und Wiedergeburt bis zur schließlichen Erlösung wartet.
Was von uns den Tod auch überlebt, es ist der Teil, den wir mit der »Seele« oder unserem wesentlichen Selbst gleichsetzen. Wenn wir annehmen, dass es eine Seele gibt, und uns fragen, was mit ihr nach dem Tod geschieht, dann dreht sich die Debatte nicht einfach darum, ob etwas von uns den physischen Tod überdauert, sondern spezieller darum, wie eine solche Entität in den neuen Seinszustand ihrer Bestimmung übergeht. Jede Antwort muss so etwas wie ein Erbe oder das Prinzip von Kontinuität und Erhalt berücksichtigen. Aus Sicht des Körpers ist dies problemlos möglich, sorgt doch der genetische Code für die Weitergabe und den Erhalt physischer Charakteristika sowohl an neue Individuen als auch Arten. Das Bleibende ist ein körperliches oder biologisches »Gedächtnis«. Doch gibt es auch zahlreiche Berichte von Menschen, die schon früh im Leben in ihrem Gedächtnis Erinnerungen an vormalige Existenzen ausgegraben haben, Erfahrungen, die sie gut belegen konnten. So berichtete Rabbi Yonassan Gershom (*1947), ein Ratgeber und spiritueller Heiler, von seiner Arbeit mit Menschen, die persönliche Erinnerungen an den Holocaust beschreiben konnten, obwohl sie erst Jahre nach den Ereignissen zur Welt gekommen waren. Das Gedächtnis, so hob Lama Anagarika Govinda hervor, sei »eine formerhaltende und eine formschaffende Kraft«. Das Gedächtnis als ein Aspekt des Bewusstseins ergreife »einen noch undifferenzierten, widerstandslosen und daher rezeptiven Lebenskeim im Mutterschoß als materielle Basis eines
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