Der Fuenf-Minuten-Philosoph
neuen individuellen Organismus«. Diese Form von Kontinuität und Erhalt, die sogenannte Reinkarnation, ist das Grundprinzip des tibetischen Buddhismus. Kein wissenschaftlicher Skeptiker, der den Standpunkt vertrat, dass Gott und alles Spirituelle Trugbilder seien, zog je das Prinzip der Reinkarnation in Betracht. Aber wir können aus gutem Grund die Vorstellung von der Wiedergeburt als eine plausible Antwort auf unsere drängenden Fragen ansehen, was es mit dem Jenseits auf sich hat.
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»Himmel (m): ein Ort, wo die Bösen aufhören, dich mit ihren persönlichen Angelegenheiten zu behelligen, und wo die Guten aufmerksam zuhören, wenn du deine eigenen erläuterst.«
Ambrose Bierce (1842–1914)
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Vielen erscheint die Möglichkeit, dass unsere Seele, unser Geist, Bewusstsein oder Gedächtnis nach unserem Tod in einem neuen Körper wieder ins Leben treten, als die befriedigendste Antwort auf die Frage: »Werden wir nur geboren, um zu sterben?« Interessant ist, dass die Vorstellung der Reinkarnation in den östlichen Überlieferungen und Kulturen einen besseren Stand hat als in den westlichen. Ein Grund dafür ist Buddhas Lehre desKarma, das, einfach gefasst, das Gesetz von Ursache und Wirkung bedeutet. In dieser Kette von Aktion und Reaktion lässt uns der Tod mit etwas Unvollendetem zurück, das wir noch weiter bearbeiten müssen – und dazu bietet sich in einem neuen Leben die Gelegenheit. Ein solches Denken steht in scharfem Kontrast zur abendländischen Vorstellung vom Tod als endgültigem Ende des bewussten Lebens des Einzelnen, auch wenn dieser spirituell weiterleben kann. Dennoch ist in unserer Kultur die Vorstellung einer Wiedergeburt längst ebenfalls präsent. »Ich bin zuversichtlich, dass es wahrhaftig so etwas gibt, wie noch einmal zu leben, dass die Lebenden von den Toten herstammen und dass die Seelen der Toten am Leben sind.« Diese Worte stammen – auch wenn es überraschen mag – von Sokrates.
Was ist ein spirituelles Leben?
Der Begriff des Spirituellen bezieht sich auf eine Realität jenseits des Körperlichen, was beinhaltet, dass es innerhalb der Gesamtheit der physikalischen Welt eine andere Dimension oder Energie gibt, die nicht den physikalischen Gesetzen unterworfen ist, uns aber dennoch individuell betrifft. Ein spirituelles Leben ist die persönliche Kultivierung dieser Energie, durch die wir unser Gespür für das »Andere« oder das Absolute vertiefen. Ein spirituelles Leben zu verfolgen beinhaltet gewöhnlich verschiedene Praktiken wie persönliches Gebet, Meditation und Kontemplation oder die eher förmlichen liturgischen Riten und vorgegebenen Gebete, wie sie alle Religionen praktizieren. Die Entfaltung eines spirituellen Lebens kann, muss aber nicht mit Religion verbunden sein. Wir müssen dabei nicht unbedingt ein transzendentes Ziel anvisieren, sondern können auch nach persönlicher Orientierung streben und für dieses eine irdische Leben Sinn, Richtung und Ansporn suchen. Ein spirituelles Leben braucht auch keinen Gott: Es kann ästhetisch oder ethisch oder beides sein. Ehrfurcht und Staunen können beteiligt sein,aber mit einer Vertiefung unserer Selbstwahrnehmung und unseres Selbstverständnisses als Ergebnis. Für viele, die von den althergebrachten Glaubenslehren, Theologien und religiösen Praktiken enttäuscht sind, wird das spirituelle Leben von dem Gefühl getragen, dass wir irgendwie mit dem gesamten Universum verbunden sind, als ein integraler Bestandteil des Mysterium tremendum, als ein unverzichtbares Glied in der Kausalität, der Kette von Ursache und Wirkung, die Buddhisten als »bedingtes Entstehen« bezeichnen.
In allen Religionen steckt ein Kern echter Spiritualität, aber keine hat das Monopol darauf. In ihrer religiösen Gewandung ist Spiritualität der Weg zum Heil oder zur Erleuchtung. Allerdings wird sie durch Dogmen, Glaubensbekenntnisse, Glaubenslehren und Rituale so stark verklausuliert, dass dieses Heil oder diese Erleuchtung eher trotz als wegen ihres religiösen Rahmens erlangt wird. Östliche Religionen beinhalten ein flexibleres Konzept der Spiritualität, die als tiefer reichende Form von Bewusstsein und Wahrnehmung begriffen wird. Diese weiterzuentwickeln hängt nicht vom Aufbau eines vorgegebenen Glaubenssystems, sondern davon ab, dass sich der Einzelne entschlossen auf die sogenannte »Einsgerichtetheit des Geistes« oder die »unmittelbare Wahrnehmung« konzentriert. Es gibt keine Anrufung der »göttlichen Gnade«, keinen
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