Der Fuenf-Minuten-Philosoph
haben. Deswegen sagen wir, dass wir dem einen wahren Gott begegnen, unser wahres Ich erkennen oder wahres Glück, wahre Liebe und w ahre Erfüllung erfahren wollen. Dies alles entspringt unserem Bedürfnis, die Gewissheit zu haben, dass wir in Wahrhaftigkeit leben – ein Bedürfnis, das die Religion, egal in welcher ihrer vielen Gewandungen, befrieden kann.
K önnen alle Religionen recht haben?
Alle Religionen enthalten Wahrheit, aber die Unterschiede in den Grundlagen und Formulierungen sind tendenziell inkompatibel. Wie aufrichtig ein Glaube vertreten wird, ist kein Maß für seine Stichhaltigkeit: Man kann sich auch aufrichtig irren . Damit ein Dialog zwischen Religionen sich lohnt, muss er anstatt um spezielle Details um breit angelegte Sichtweisen und idealerweise um gemeinsame Grundanschauungen geführt werden. Im Osten sind die verschiedenen Kulturtraditionen durch ähnliche Glaubensinhalte verbunden. Dagegen werden in den biblischen Religionen diese Inhalte von Theologien und Dogmen bestimmt, die das Ermitteln einer gemeinsamen Basis erschweren.
Manchmal werden Glaubenswahrheiten zu einem – gewöhnlich unbequemen – Synkretismus, einer Kombination aus Glaubenswahrheiten, die nicht immer so überzeugend wirken wie die Teile, aus denen sie zusammengesetzt sind. Der Synkretismus zielt darauf ab, gegensätzliche oder grundverschiedene religiöse Überzeugungen miteinander auszusöhnen oder religiöse Anschauungen so zu kombinieren, dass sie die Ausstrahlung und Anziehungskraft einer Religion erhöhen. So entstand beispielsweise das Urchristentum aus vielfältigen jüdischen und griechischen Einflüssen aus der jeweiligen Kultur und Philosophie. Der lateinamerikanische Katholizismus nahm bestimmte Aspekte und religiöse Praktiken aus den indigenen Sklavenkulturen mit auf. Baha’ullah (1817–1892), der Stifter der Religion der Bahai, galt als Nachfolger Mohammeds, Jesu, Moses, Buddhas, Zoroasters sowie Abrahams und verband anscheinend Elemente aus deren Lehren miteinander. Der Sikhismus, der von Guru Nanak Dev (1469–1539) gegründet wurde, ist ein Versuch, den Islam der Mogule mit dem Hinduismus in Einklang zu bringen. »Da ist weder Hindu noch Muslim, welchem Weg soll ich dann folgen«, fragte Nanak. »Gott ist weder Hindu noch Moslem, und der Weg, dem ich folge, ist der Gottes.« Die Bildung von Synkretismen ist eine fortdauernde Entwicklung, die viele moderne Sekten hervorgebracht hat. So kombiniert beispielsweise der Caodaismus in Vietnam Elemente des Buddhismus, des Katholizismus und des spiritistischen Kardecismus. Und der Versuch in Nigeria, die Glaubenslehren von Christentum und Islam miteinander zu verbinden, heißt nicht überraschend »Chrislam«.
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»Gott hat so viele verschiedene Arten von Menschen erschaffen; warum sollte Gott nur eine einzige Art der Religionsausübung erlauben? «
Martin Buber (1878–1965)
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Stellen die vielen Religionen dann wahrscheinlich einfach nur verschiedene Wege zum selben Ziel dar? Die Frage lässt sich nur in einem sehr generellen und abstrakten Sinn mit Ja beantworten. Das Christentum wie der Islam nehmen für sich in Anspruch, dass jeweils sie als einzige Religion ihre Gläubigen zu Gott führen könnten. Deshalb stehen die Wege, die sie dazu weisen, zu denen aller anderen Religionen im Widerspruch. Die Antwortmöglichkeit auf unsere Frage reduziert sich folglich auf eine von zwei Lösungen: Entweder alle Religionen führen zum selben Ziel oder nur eine einzige hat recht. Wenn Wahrheit als absolut behauptet wird, kann es nur eine Wahrheit geben. Aber aus dieser Sackgasse führt ein Weg heraus. Religionen, die ein Wahrheitsmonopol für sich reklamieren, beanspruchen es aus einer inneren fundamentalistischen Strömung heraus. (Der Begriff »Fundamentalismus« wird etwas weiter unten behandelt.) Alle Religionen, auch die, in denen das Fundamentalistische vorherrscht, enthalten zugleich entgegengesetzte mystische Strömungen. Die Mystik, in der die unmittelbare Erfahrung der göttlichen Wahrheit angestrebt wird, macht sich nicht an Formen fest: Sie hängt nicht von Rechtgläubigkeit oder Dogmen ab, sondern führt den Gläubigen in transzendente Seelenzustände, in denen die erkannte eine gemeinsame Wahrheit ist, selbst wenn ihre Vision die Gestalt Jesu, das En Sof der Kabbala oder der unsagbare und unfassbare tiefe Versenkungszustand einer buddhistischen Meditation ist.In ihrem mystischen Aspekt können so durchaus alle Religionen »recht haben«,
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