Der Fuenf-Minuten-Philosoph
»Gott ist nicht wie ein menschliches Wesen: Für Gott ist nicht wichtig, dass er sichtbare Evidenz besitzt, damit er sehen kann, ob seine Sache obsiegt hat oder nicht. Er sieht ebenso gut im Verborgenen.«
Durch Gottes Abwesenheit befreit, sind wir »mündig geworden«, wie Dietrich Bonhoeffer prognostizierte. Frei wurde aber nicht nur die Menschheit, sondern auch Gott, da er jetzt religionslos ist. Wir können die Abwesenheit Gottes mit einer hart erkämpften Immunität untersuchen, können den frei gewordenen Raum im Hinblick darauf betrachten, wie wir ihn mit etwas grundlegend Sinnvollem belegen. Sartres existenzialistische Einsamkeit erwies sich als ebenso prägend wie der Mythos von der Inkarnation Gottes, vom Fleisch gewordenen Geist. Interessanterweise gründet sich die Mystik aller bedeutenden Religionen auf die Unverzichtbarkeit der Einsamkeit, die in ihrem tiefsten Sinn eine Abwesenheit des eigenen Ichs ist. Wenn Gott und das Ich abwesend sind, besitzen beide die Freiheit zurückzukehren und einander neu kennenzulernen.
6
DIE RELIGION
»Religion ist die Metaphysik des Volkes.«
Arthur Schopenhauer (1788–1860)
»Religion gilt dem gemeinen Manne als wahr, dem Weisen als falsch und dem Herrscher als nützlich.«
Seneca der Jüngere (um 3 v. Chr. – 65 n. Chr.)
W as ist eine Religion?
Der Begriff »Religion« hat eine interessante Geschichte. Dem römischen Politiker und Schriftsteller Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) zufolge leitet sich das Wort etymologisch vom lateinischen relegare für »bedenken« oder »beachten« her. Nach anderen geht es auf das Verb religare für »anbinden«, »an etwas festmachen« im Sinn einer Pflicht oder Bindung zurück, die Menschen untereinander zusammenhält. Religio ist die Achtung vor dem Heiligen oder die Verehrung der Götter. Das englisch-französische Wort religiun aus dem 11. Jahrhundert bezeichnete eine religiöse Gemeinschaft, während im 12. Jahrhundert »Religion« eine Lebensweise bedeutete, die an Klostergelübde gebunden war und eine Glaubenspraxis beinhaltete, wie sie die Ordensregel formulierte. Eine Zusammenfassung dieser etymologischen Ursprünge umreißt die Religion als eine bestimmte Menge von Glaubensinhalten, zusammen mit den jeweils erforderlichen Praktiken, Riten und Andachtsformen, die per Gewohnheit oder durch gemeinschaftliche Beschlüsse autorisiert wurden. Wir können hinzufügen, dass die Menge der Glaubensinhalte, durch die sich eine Religionsgemeinschaft definiert, wahrscheinlich einen ethischen Kodex beinhaltet, der ihre Einstellungen und Verhaltensweisen als Gruppe bestimmt.
Seit dem Zeitalter der Aufklärung hat sich das Bedeutungsspektrum des Begriffs der Religion deutlich erweitert. Nach dem französischen Soziologen Émile Durkheim ist »eine Religion ein einheitliches System von Glaubensinhalten und auf heilige Dinge bezogenen Praktiken«. Es besteht kein Zwang zu einem Glaubensbekenntnis oder einer Autorität, und die Entscheidung, was »heilig« ist, bleibt dem Einzelnen überlassen. Der Philosoph und Mathematiker Alfred North Whitehead (1861–1947) meinte, »Religion [sei] das, was der Einzelne mit seiner Einsamkeit anstellt«, eine Definition, die für den damalsaufkommenden Standpunkt des anything goes (»Mach, was du willst«) des Philosophen Paul Feyerabend (1924–1994) kennzeichnend ist. Die Bewegung zielte auf Einfachheit fernab jeder Form der Orthodoxie ab. Wohl überraschend bei einem Führer des tibetischen Buddhismus verkündete der Dalai Lama: »Dies ist meine einfache Religion. Es braucht keine Tempel, keine komplizierte Philosophie. Unser eigenes Gehirn, unser Herz ist unser Tempel. Die Philosophie ist Güte.« Das Prinzip dieser Art Offenheit übt eine gewaltige Anziehungskraft aus, stellt es doch dem Menschen anheim, dem Göttlichen auf die ihm am sinnvollsten erscheinende Weise zu begegnen. Auch wenn es keineswegs die gesamte Geschichte seines christlichen Glaubens widerspiegelt, so gab Jakobus in seinem ersten Brief für die »reine« Religion eine höchst überraschende Definition, die das Gefühl weckt, dass er ihre Konsequenzen nicht erwogen hat: »Ein reiner und makelloser Dienst vor Gott, dem Vater, besteht darin: für Waisen und Witwen zu sorgen, wenn sie in Not sind, und sich vor jeder Befleckung durch die Welt zu bewahren.« Daran ist nichts speziell Christliches. Das Gesagte passt auf viele Religionen, die sich darauf stützen, Gott als »Vater« zu präsentieren.
Weitere Kostenlose Bücher