Der Fuenf-Minuten-Philosoph
Ansonsten geht es um den Dienst an der Gesellschaft und das Meiden vor »Befleckung durch die Welt«, eine Warnung vor Habgier und Materialismus.
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»Gott hat keine Religion.«
Mahatma Gandhi (1869–1948)
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Die Religion hat nach jeder Definition ihre Kritiker und Querdenker, sei es Karl Marx (1818–1883), der sie als »Opium des Volkes« verspottete, George Bernard Shaw (1856–1950) mit seiner weltlichen Mystik oder Percy Bysshe Shelley mit seinem lyrischen Atheismus. Ambrose Bierce (1842–1914) gibt in ›Des Teufels Wörterbuch‹ eine pointierte Definition: »Religion (f): Eine Tochter von Hoffnung und Furcht, die dem Unwissenden die Natur des Unerkennbaren erklärt.«
B edient Religion ein menschliches Grundbedürfnis?
In seiner Theorie der Religion listet der amerikanische Psychologe und Psychiater Steven Reiss 16 menschliche Grundbedürfnisse auf, welche die Religion befriedige. »Die Religion«, so schreibt er, »ist facettenreich. Sie lässt sich nicht auf ein oder zwei Bedürfnisse reduzieren.« Seine Theorie basiert auf dem Konzept der Motivation, das heißt, des zielgerichteten Verhaltens, das unsere »Bedürfnisse« bestimme. An dieser Stelle kann nicht auf alle Bedürfnisse, die Reiss ausgemacht hat, eingegangen werden. Aber einige Beispiele geben eine grobe Vorstellung von dem, was er meint: Akzeptanz (das Bedürfnis nach Anerkennung), Neugierde (das Bedürfnis, zu lernen), soziale Kontakte (das Bedürfnis nach Freunden), Status (das Bedürfnis nach gesellschaftlichem Ansehen) und Ordnung (das Bedürfnis nach einer organisierten, stabilen und vorhersagbaren Umwelt). Sicher kann Religion diese Bedürfnisse befriedigen. Aber auch wenn Reiss versichert, dass alle Elemente seiner Theorie wissenschaftlich überprüfbar seien und diese so zu einem besseren allgemeinen Verständnis der Religion führe, so kann das von ihm umrissene Bezugssystem einen »religiösen Instinkt« oder eine religiöse Sehnsucht, wie man auch sagen könnte, nicht erklären, so breit es auch gefasst wird.
Nach dem amerikanischen Psychologen und Philosophen William James (1842–1910) versteht man die Funktion der Religion nur dann, wenn man sie als eine Erfahrung betrachtet, als »religiöse Gabe«, wie er es nannte. Er betonte die persönliche Religiosität, da sich alle institutionalisierten Formen von Religion aus Erfahrungen Einzelner ableiteten. Jeder von uns habe Überzeugungen, seien sie religiös oder nicht. Manche seien zwar nicht rational überprüfbar, trügen aber zu unserer Verwirklichung bei. James hob zwei Arten von Grundbedürfnissen hervor. Erstens das des »seelisch Gesunden«, der sich, anstatt bei der Schlechtigkeit der Welt zu verharren, auf das Gute und Positive konzentriert. Die Religion so eingestellter Gläubiger istoffen, kaum autoritär und für die Gesellschaft nützlich. Zweitens das Grundbedürfnis des »seelisch Kranken«, der vom Leiden, der Sorge und dem Übel in der Welt umgetrieben wird. Die Religion, die seine Bedürfnisse befriedigt, muss auf die Sünden ausgerichtet sein und die Sicherheit einer Erfahrung bieten, die Einheit und Erlösung verheißt. Als ein Beispiel für die erste Art Religiosität berief sich James interessanterweise auf den amerikanischen Dichter Walt Whitman (1819–1892): »Göttlich bin ich innerlich und äußerlich … Ich mache alles heilig, was ich berühre oder das mich berührt.« Für die zweite Art führte er den englischen Baptistenprediger und Schriftsteller John Bunyan (1628–1688) an: »Ich fand so lange keine Ruhe, bis ich zu einer gesicherten Erkenntnis darüber gelangte, ob ich nun Glauben hätte oder nicht, und dies ging mir immer wieder durch den Kopf … aber wie kann man sagen, ob man Glauben hat?«
Bleibt festzuhalten, dass das in der Bibel breit verankerte Bedürfnis nach Erlösung ein grundlegendes und dringendes ist, weil wir nach dieser Sichtweise nur über ein Leben verfügen, um diese Erlösung zu erlangen. Menschliche Grundbedürfnisse sind auch die »Erkenntnis« oder »Erleuchtung«, die uns den östlichen Religionen zufolge nach langen Praktiken befähigen, unser »wahres Selbst« zu erkennen und die Dinge zu sehen, »wie sie wirklich sind«. Unsere religiösen, wissenschaftlichen oder philosophisch rationalen Bestrebungen entspringen dagegen einem Bedürfnis nach »Wahrhaftigkeit«, wie man es fassen könnte. Wir wollen in der Überzeugung leben können, dass der Sinn und die Inhalte, für die unser Leben steht, Berechtigung
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