Der Fünfte Elefant
sehr sorgfältig gezählt. Heute Morgen sind es nur noch einund-vierzig, Unterobergefreiter. Obwohl sie im Schreibtisch eingeschlossen waren. Hast du eine Erklärung dafür?«
Die ehrliche und selbstmörderische Antwort hätte gelautet: Nun,
Hauptmann, du verfügst zweifel os über viele bewundernswerte
Fähigkeiten, aber ich habe gesehen, wie du zweimal deine Finger gezählt hast, und zwar mit unterschiedlichem Ergebnis.
»Äh… Mäuse?«, erwiderte Besuch.
»Ha! Fort mit dir, Unterobergefreiter! Und denk über das nach,
was ich dir gesagt habe!«
Als der deprimierte Besuch das Büro verlassen hatte, nahm
Hauptmann Colon am großen, leeren Schreibtisch Platz.
Irgendwo hinter seiner Stirn glühte noch immer ein Funken In-
telligenz durch den dichten Nebel aus lähmendem Entsetzen, und
dieser Funken teilte ihm mit: Er hatte so sehr den Boden unter den
Füßen verloren, dass er nicht mehr auf dem schmalen Grat der
Vernunft balancierte, sondern in den bodenlosen Abgrund des
Wahnsinns stürzte.
Ja, er hatte einen leeren Schreibtisch. Aber nur deshalb, weil er den Papierkram einfach wegwarf.
Fred Colon war keineswegs Analphabet, aber er brauchte Zeit
und einen geistigen Anlauf, um mit Geschriebenem fertig zu wer-
den, das umfangreicher war als eine kurze Liste. Wörter mit mehr
als drei Silben stellten ein fast unüberwindliches Hindernis für ihn dar. Colon war auf einer rein funktionel en Ebene des Schreibens und Lesens kundig: Er verglich das Schreiben und Lesen mit Stiefeln. Man brauchte sie, aber niemand erwartete von ihnen, dass sie
Spaß machten. Wer sich zu sehr dafür begeisterte, erregte Arg-
wohn.
Bei Herrn Mumm hatten die Papiere immer hohe Stapel auf dem
Schreibtisch gebildet, aber Colon vermutete, dass Mumm und Ka-
rotte einen ganz besonderen Weg gefunden hatten, mit der Do-
kumentenflut fertig zu werden: Sie verstanden es, das Wichtige
vom Unwichtigen zu unterscheiden. Für Colon blieb al es verwir-
rend und rätselhaft. Es gab Beschwerden, Memos, Einladungen,
auszufüllende Formulare, Briefe, deren Verfasser um »einige Minu-
ten deiner Zeit« baten, Berichte und Sätze mit Ausdrücken wie
»ungeheuerlich« und »unverzügliche Maßnahmen«. In seinem Be-
wusstsein türmte sich all dies wie eine gewaltige Welle auf, die je-
derzeit auf ihn herabschmettern konnte.
Jener Teil von Colon, der verzweifelt an einem Rest von Ver-
nunft festhielt, fragte sich, ob es nicht die wahre Aufgabe von Of-
fizieren war, diesen ganzen Kram von Feldwebeln fern zu halten –
damit die Feldwebel weiterhin Feldwebel sein konnten.
Hauptmann Colon holte tief und zittrig Luft.
Andererseits… Wenn die Leute sogar Zuckerstücke stibitzten,
durfte man sich nicht wundern, dass al es drunter und drüber ging!
Bring die Sache mit den Zuckerstücken in Ordnung – der Rest
erledigt sich von ganz allein.
Das ergab einen Sinn!
Er drehte den Kopf und sah zu dem großen, anklagenden Do-
kumentenhaufen in der Ecke.
Er bemerkte auch den leeren Kamin.
Darum ging es bei der Tätigkeit eines Offiziers. Es kam darauf
an, Entscheidungen zu treffen!
Unterobergefreiter Besuch ging nach unten in den Hauptraum der
Wache zurück. Dort hielten sich jetzt mehrere Personen auf, denn
der Schichtwechsel stand unmittelbar bevor.
Alle drängten sich um einen Schreibtisch, auf dem die schmutzi-
ge Steinsemmel lag.
»Obergefreiter Schenkelbeißer hat sie in der Zephirstraße gefun-
den«, sagte Feldwebel Starkimarm. »Sie lag einfach da. Offenbar
hat es der Dieb mit der Angst zu tun bekommen.«
»Aber der Fundort ist ziemlich weit vom Museum entfernt«, sag-
te Reg Schuh. »Warum sollte der Dieb die Steinsemmel quer durch
die Stadt schleppen, um sie dann in einem piekfeinen Viertel zu-
rückzulassen, noch dazu an einer Stel e, wo man sie sofort findet?«
»Oh, weh mir, denn ich bin ruiniert«, sagte Unterobergefreiter
Besuch. Er fühlte sich in den Hintergrund gedrängt, noch dazu
von einem Objekt, das er als heidnisches Symbol bezeichnet hätte,
wenn ihm seine Beine nicht mehr wichtig gewesen wären.
»Besser du als wir«, erwiderte Korporal Nobbs, der nicht viel
von Mitleid hielt.
»Ich meine, ich bin zum Unterobergefreiten degradiert«, erklärte
Besuch.
»Was? Warum?«, fragte Feldwebel Starkimarm.
»Ich… weiß nicht genau«, antwortete Besuch.
»Jetzt reicht’s!«, sagte der Zwerg. »Gestern hat er drei Wächter
bei den Tollen Schwestern rausgeschmissen. Ich warte nicht, bis
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