Der Fürst der Dunkelheit
Obduktionsräumen gab es natürlich alle möglichen Skalpelle und Sägen, aber das Risiko, einem Eindringling über den Weg zu laufen, bevor er sich dort bewaffnen konnte, wollte er lieber nicht eingehen. Er zog eine Schublade auf. Aha! Ein Brieföffner.
Mit dem Ding in der Faust blickte er zum Haupteingang. Alle Sicherheitsschlösser verriegelt. Er ging einen Flur entlang.
Ein Blick in den ersten Raum, wo alles steril und makellos war.
Und es roch desinfiziert.
Wie ein Leichenschauhaus.
Ein Ort des Todes.
Nicht gerade überraschend, dachte er achselzuckend und ging weiter.
Er entdeckte nichts. Schließlich kam er zu den breiten Stahltüren, hinter denen die gegenwärtigen Bewohner des Leichenschauhauses lagen.
Er öffnete eine Tür, betrat etwas, das im Wesentlichen ein riesiger Kühlschrank war, und sah sich um. Nichts. Nein, halt.
Da war was.
Mist!
Auf einem der Stahltische bewegte sich etwas unter dem über die Leiche gezogenen Tuch. Verdammt noch mal, es gab hier tatsächlich Ratten. Verflucht große Ratten, nach dem zu schließen, was sich da unter dem Tuch bewegte.
Ratten – oder vielleicht auch ein Studienkumpel, der ihm einen Mordsschreck einjagen wollte, dachte er. Er schüttelte den Kopf und ging zu dem Stahltisch.
“Arschloch”, sagte er und zog die Decke zurück.
Aber da lag kein Studienkumpel, um aufzuspringen und “Buh!” zu schreien.
Er hatte diese Leiche vorhin schon gesehen. Sie war von einer Frau gefunden worden, die ihr Kind suchte, und sie war schon seit Monaten tot und ziemlich verwest. Die Augen waren weg. Von Ameisen oder sonst was gefressen. Das Fleisch war auch schon zum größten Teil verrottet, und was noch an den Knochen hing, sah verbrannt aus. Tatsächlich hing der Geruch von verbranntem Fleisch über der Leiche. Sie – denn es war eine sie – war kaum noch als menschliches Wesen erkennbar gewesen.
Aber jetzt …
Ein Geräusch stieg von der Leiche auf, wie … wie Insekten, die an dem Fleisch und den Knochen nagten, aber das war nicht die Ursache.
Es handelte sich tatsächlich um Fleisch und Knochen. Fleisch und Knochen, die anscheinend von selbst wieder Gestalt annahmen. Er starrte herab auf Adern, die sich neu bildeten, Muskeln, die sich formten.
Ihre Augen – die vorhin gar nicht mehr da gewesen waren – öffneten sich plötzlich, und sie starrte ihn an.
Sie starrte ihn an.
Und dann lächelte sie.
Sie lächelte, nur dass es gar kein Lächeln war, es war ein Zähnefletschen. Sie entblößte die Zähne, bloß waren es auch keine Zähne, es waren regelrechte Hauer. Sie sah aus wie eine riesige Viper, die ihren entsetzlichen Schlund aufriss, und plötzlich wusste er, dass sie diese Reißzähne in seinen Hals graben wollte.
Er schrie auf.
Und schlug zu, prügelte mit der Faust auf dieses Gesicht ein, wollte sie mit dem Brieföffner erstechen. Aber die Reißzähne kamen näher.
Dann wurde ihm plötzlich etwas Schweres auf den Kopf geschlagen. Er sah Sterne und stürzte zu Boden.
Er glaubte, jemanden undeutlich “Mistkerl” sagen zu hören, aber sicher war er nicht. Und dann wurde alles still, als ob vom Himmel ein schwarzer Vorhang herabgesenkt worden wäre, und um hin herum war nur noch ewige Finsternis.
14. KAPITEL
A ls Mark beim Leichenschauhaus ankam, war er sicher, der Erste zu sein, doch als er an der Tür des anscheinend verlassenen Gebäudes stand, ging diese plötzlich auf und Sean Canady stand vor ihm in der Dunkelheit.
“Sie haben ganz schön lange gebraucht”, sagte er, drehte sich um und marschierte los. Über die Schulter rief er: “Kommen Sie rein.”
Mark folgte ihm. Seine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit. Die paar brennenden Notlichter warfen nur ein schwaches Licht in den Gang.
“Kein Nachtwächter?”, fragte Mark.
“Der ist hier.”
“Oh?”
“Ich habe ihn niedergeschlagen”, sagte Sean ungeduldig. “Es musste sein.”
“Wirklich?”
“Kommen Sie, sehen Sie sich das an.”
“Ich dachte, ich sollte wegen der Leiche kommen, die heute von der Polizei eingeliefert wurde?”, fragte Mark stirnrunzelnd.
“Ja.”
“Ich habe sie vernichtet.”
“Sie
hätte
vernichtet sein sollen”, sagte Sean.
“Was? Falls sie zurückkommt, müssen wir mit ihr reden. Wir müssen wissen, wohin sie sich zurückzieht, wer …”
“Tut mir leid, aber dafür ist es jetzt zu spät.”
“Wovon reden Sie?”
“Das werden Sie gleich sehen.”
Und er sah es tatsächlich. Der Nachtwächter lag ohnmächtig am Boden,
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