Der Fürst des Nebels
Rest seines Lebens begleiten sollte: Alicia, eingehüllt in den Schein des Mondes, tauchte ihre weiße Haut in ein Meer aus silbernem Licht.
Der Tag brach an unter einem Mantel von dunklen Wolken, die sich von weit jenseits des Horizontes her ausbreiteten und ein trübes und nebliges Licht durchsickern ließen, das an einen kalten Wintertag erinnerte. Auf das Metallgeländer des Leuchtturms gestützt, betrachtete Victor Kray die Bucht zu seinen Füßen. Die Jahre im Leuchtturm hatten ihn gelehrt, die seltsame und geheimnisvolle Schönheit jener bleiernen Tage zu schätzen, die ein Unwetter mit sich trugen und den Beginn des Sommers an der Küste ankündigten.
Von der Warte des Leuchtturms aus sah das Dorf wie eine merkwürdige Spielzeugstadt aus, die sorgfältig von einem Sammler aufgebaut worden war. Auf der anderen Seite, Richtung Süden, erstreckte sich der Strand wie eine endlose weiße Linie. An Tagen intensiver Sonne konnte man vom Leuchtturm aus den Rumpf der Orpheus unter der Meeresoberfläche erkennen. Sie wirkte wie ein gewaltiges technisches Fossil, das im Sand aufgesessen war.
An diesem Morgen jedoch schaukelte das Meer wie ein dunkler See ohne Grund. Während Victor Kray die undurchdringliche Oberfläche des Ozeans genau untersuchte, dachte er an die vergangenen zwanzig Jahre zurück, die er in dem von ihm selbst erbauten Leuchtturm verbracht hatte. Es war ihm, als spüre er jedes einzelne dieser Jahre wie eine schwere Steinplatte auf seinen Schultern.
Manchmal hatte er in dieser unendlichen Zeit des Wartens gedacht, daß alles vielleicht eine Täuschung gewesen war. Möglicherweise hatte ihn seine hartnäckige Besessenheit zum Wächter einer Bedrohung gemacht, die nur in seiner Einbildung existierte. Aber die Träume waren immer wieder zurückgekehrt. Schließlich waren die Gespenster der Vergangenheit aus ihrem langjährigen Schlaf erwacht und irrten wieder durch die Gänge seines Geistes. Und mit ihnen kam die Angst, schon zu alt und zu schwach zu sein, um seinem alten Feind noch einmal gegenüberzutreten.
Seit einigen Jahren schlief er kaum mehr als zwei oder drei Stunden täglich; den Rest seiner Zeit verbrachte er praktisch allein im Leuchtturm. Sein Enkel Roland übernachtete oft in seiner Hütte am Strand, und so konnte es vorkommen, daß die beiden einander tagelang kaum sahen. Victor Kray hatte sich selbst aus freien Stücken zu dieser Zurückgezogenheit seinem Enkel gegenüber verurteilt, denn dies verschaffte ihm eine Art Seelenfrieden. Der Schmerz, den er darüber empfand, diese Jahre nicht gemeinsam mit dem Jungen zu verbringen, schien ihm der Preis zu sein für Rolands Sicherheit und sein künftiges Glück.
Trotzdem spürte er jedesmal, wenn er vom Leuchtturm aus sah, wie sich der Junge in das Wasser der Bucht beim Rumpf der Orpheus stürzte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Er hatte nicht gewollt, daß Roland Bescheid wußte, und so hatte er dessen Fragen über das Schiff und über die Vergangenheit immer ausweichend beantwortet, indem er versuchte, nicht zu lügen und ihm gleichzeitig die wahren Begebenheiten zu verschweigen. Als er am Tag zuvor Roland und seine beiden neuen Freunde am Strand beobachtet hatte, hatte er sich jedoch gefragt, ob das nicht ein schwerer Fehler gewesen war.
Diese Grübeleien hielten ihn an jenem Morgen länger auf dem Leuchtturm als sonst. Seine Uhr zeigte schon auf halb elf, als er endlich die Wendeltreppe des Turms hinunterstieg, um nach Hause zu gehen und die spärlichen Stunden Schlaf zu nutzen, die er seinem Körper zugestand. Auf dem Weg sah er, daß Rolands Fahrrad da stand und daß der Junge gekommen war, um die Nacht hier zu verbringen.
Er betrat das Haus leise, um den Schlaf seines Enkels nicht zu stören. Doch Roland erwartete ihn bereits, in einem der alten Lehnstühle des Eßzimmers sitzend. »Ich konnte nicht mehr schlafen. Großvater«, sagte er und lächelte den Alten an. »Ein paar Stunden lang hab ich geschlafen wie ein Murmeltier, aber dann bin ich plötzlich aufgewacht und konnte nicht wieder einschlafen.«
»Ich kenne das«, erwiderte Victor Kray. »aber ich weiß einen bombensicheren Trick.«
»Und der wäre?« erkundigte sich Roland.
Der Alte zeigte sein schelmisches Lächeln, das ihn um Jahre jünger wirken ließ.
»Man muß etwas kochen. Hast du Hunger?«
Roland überlegte. Die Vorstellung von Toast mit Butter und Marmelade und pochierten Eiern verursachte ein Kitzeln in seinem Magen, und so nickte er.
»Gut«, sagte
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