Der Fürst des Nebels
waren, hatte Alicia das andere Fahrrad nehmen wollen, das noch immer im Schatten des Schutzdachs ruhte. Aber Max hatte diesen Vorschlag verächtlich zurückgewiesen und ihr angeboten, sie genauso mitzunehmen, wie Roland es am Tag zuvor getan hatte. Einen Kilometer später hatte er seine Großtuerei schon bereut.
Doch Roland schien geahnt zu haben, wie sehr sich Max während der langen Fahrt quälte, denn er wartete mit seinem Fahrrad am Eingang des Weges. Als Max ihn sah, blieb er stehen und ließ seine Schwester absteigen. Er atmete tief durch und massierte sich die Muskeln, die durch die Anstrengung gefühllos geworden waren.
»Du siehst aus, als wärst du ein paar Zentimeter geschrumpft«, neckte ihn Roland.
Max beschloß, keinen Atem mit einer Antwort auf diesen Scherz zu vergeuden. Ohne ein Wort zu verlieren, stieg Alicia auf Rolands Fahrrad, und die beiden fuhren los. Max wartete einige Sekunden, bevor er ihnen hinterherradelte. Jetzt ging es steil bergauf, und Max wußte plötzlich, wofür er sein erstes selbstverdientes Geld ausgeben würde: für ein Motorrad.
Das kleine Eßzimmer im Leuchtturmhaus roch nach frisch gekochtem Kaffee und Pfeifentabak. Der Fußboden und die Wände waren aus dunklem Holz, und abgesehen von einer umfangreichen Bibliothek und einigen Gegenständen aus der Seefahrt, die Max nicht identifizieren konnte, war der Raum eher karg. Ein Ofen für Brennholz, ein Tisch mit einer Decke aus dunklem Samt und ein paar alte Lehnstühle, mit verblichenem Leder bezogen, waren der einzige Luxus, mit dem Victor Kray sich umgab.
Roland ließ seine Freunde auf den Lehnstühlen Platz nehmen und setzte sich selbst auf einen Holzstuhl zwischen die beiden. Sie warteten fünf Minuten lang, ohne ein Wort zu wechseln, während im oberen Stockwerk die Schritte des Alten zu hören waren.
Schließlich erschien der alte Leuchtturmwärter. Er war ganz und gar nicht so, wie Max ihn sich vorgestellt hatte. Victor Kray war ein Mann von mittlerer Statur, hellem Teint und mit einem üppigen silbernen Haarbusch, der ein Gesicht umgab, das sein wahres Alter nicht verriet. Seine durchdringenden grünen Augen musterten eingehend die Gesichter der beiden Geschwister; es war, als versuche er, in ihren Gedanken zu lesen. Max lächelte verlegen unter dem forschenden Blick des Alten.
»Ihr seid der erste Besuch, den ich seit vielen Jahren empfange«, sagte der Leuchtturmwärter freundlich und setzte sich in einen der Lehnstühle, »Ihr müßt meine Manieren entschuldigen. Als ich selbst noch ein Kind war, hielt ich diese ganze Sache mit der Höflichkeit ja für einen kolossalen Blödsinn. Und im Grunde denke ich das immer noch.«
»Wir sind keine Kinder, Großvater«, sagte Roland.
»Jeder, der jünger ist als ich, ist eines«, antwortete Victor Kray. »Du mußt Alicia sein. Und du Max. Man muß nicht sehr schlau sein, um darauf zu kommen, was?«
Alicia lächelte warm. Das verschmitzte Wesen des Alten erschien ihr bezaubernd. Max studierte sein Gesicht und versuchte sich vorzustellen, wie er da seit Jahrzehnten in diesem Leuchtturm eingesperrt war, als Wächter des Geheimnisses der Orpheus .
»Ich weiß, was ihr wohl gerade denkt«, erklärte Victor Kray. »Ist das alles wahr, was wir in den letzten Tagen gesehen haben, oder vielmehr, was wir glauben, gesehen zu haben? Ich selbst habe nie gedacht, daß einmal der Augenblick kommen würde, in dem ich mit jemandem über diese Sache sprechen müßte, nicht einmal mit Roland. Aber es geschieht immer das Gegenteil von dem, was wir erwarten, ist es nicht so?«
Niemand bestritt das.
»Nun gut. Zur Sache. Als erstes erzählt ihr mir alles, was ihr wißt. Und wenn ich sage alles, heißt das auch alles. Einschließlich der Einzelheiten, die euch unwichtig vorkommen mögen. Alles . Verstanden?«
Max sah seine Kameraden an, »Soll ich anfangen?« schlug er vor.
Alicia und Roland nickten. Victor Kray gab ihm ein Zeichen, daß er seinen Bericht beginnen solle.
Während der folgenden halben Stunde erzählte Max ohne Unterbrechung alles, an was er sich erinnerte. Der Alte schaute ihn die ganze Zeit über aufmerksam an und folgte seinen Worten ohne das geringste Anzeichen von Ungläubigkeit oder Erstaunen.
Nachdem Max seine Geschichte beendet hatte und auch die anderen beiden ihren Teil dazu beigesteuert hatten, nahm Victor Kray seine Pfeife und stopfte sie übertrieben genau.
»Nicht schlecht«, murmelte er. »Nicht schlecht.«
Der Leuchtturmwärter zündete seine Pfeife an, und eine
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