Der Fürst des Nebels
Victor Kray. »Du bist der Küchenjunge. Auf geht's!«
Roland folgte seinem Großvater in die Küche, und Minuten später zog ein unwiderstehlicher Duft nach gerade zubereitetem Frühstück durchs Haus. Die beiden saßen einander am Küchentisch gegenüber und prosteten sich mit einem Glas frischer Milch zu.
»Frühstück für Leute, die noch wachsen müssen«, scherzte Victor Kray und stürzte sich mit gespielter Gefräßigkeit auf sein erstes Toastbrot.
»Gestern war ich im Schiff«, sagte Roland mit leiser Stimme, während er den Blick senkte.
»Ich weil$«, sagte sein Großvater und kaute lächelnd weiter. »Irgendeine Neuigkeit?«
Roland zögerte eine Sekunde lang, stellte das Milchglas ab und sah den Alten an, der sich bemühte, seinen Gesichtsausdruck heiter und sorglos zu halten.
»Ich glaube, daß gerade irgend etwas Schlimmes passiert, Großvater«, sagte er schließlich, »etwas, das mit ein paar Statuen zu tun hat.«
Victor Kray spürte, wie sich ein stählerner Knoten in seiner Magengegend zusammenzog. Er hörte auf zu kauen und ließ das Toastbrot zur Hälfte gegessen liegen.
»Dieser Freund von mir, Max, hat einige Dinge gesehen«, fuhr Roland fort.
»Wo wohnt denn dein Freund?« fragte der Alte mit scheinbar gelassener Stimme.
»Im alten Haus der Fleischmanns, am Strand.«
Victor Kray nickte langsam.
»Roland, erzähl mir alles, was ihr gesehen habt. Bitte.«
Roland zuckte mit den Schultern und berichtete von den Vorkommnissen der beiden letzten Tage, von dem Moment an, als er Max kennengelernt hatte, bis zu der Nacht, die gerade zu Ende gegangen war.
Als er fertig war mit seinem Bericht, sah er seinen Großvater an und versuchte, dessen Gedanken zu erraten. Der Alte schenkte ihm ein beruhigendes Lächeln.
»Iß dein Frühstück auf, Roland«, wies er ihn an. »Aber...« protestierte der Junge.
»Wenn du dann fertig bist, such deine Freunde und bring sie hierher«, erklärte der Alte. »Wir müssen über viele Dinge reden.«
An diesem Morgen rief Maximilian Carver um kurz nach halb zwölf vom Krankenhaus aus an, um seinen Kindern die neuesten Nachrichten mitzuteilen. Die kleine Irina erholte sich langsam, aber die Ärzte wagten immer noch nicht zu versichern, daß sie außer Gefahr sei. Dennoch kam es Alicia so vor, als strahle die Stimme ihres Vaters eine gewisse Ruhe aus. Das Schlimmste schien vorüber zu sein.
Einige Minuten später klingelte das Telefon erneut. Diesmal war es Roland, der vom Dorfcafé aus anrief. Am Mittag würden sie sich beim Leuchtturm treffen. Als Alicia den Hörer auflegte, kam ihr der verzauberte Blick wieder in den Sinn, mit dem Roland sie in der vorherigen Nacht am Strand angesehen hatte. Sie lächelte vor sich hin und ging hinaus, um Max die Neuigkeiten mitzuteilen. Ihr Bruder saß im Sand und schaute auf das Meer hinaus. Am Horizont entzündeten die ersten Lichtblitze eines Gewitters ein Feuerwerk aus Licht am Himmelsgewölbe. Alicia lief bis zum Meeresufer und setzte sich neben Max. Die kalte Luft ließ sie frösteln, und sie wünschte, sie hätte sich einen warmen Pullover mitgenommen.
»Roland hat angerufen«, sagte Alicia. »Sein Großvater will uns sehen.«
Max nickte schweigend, ohne den Blick vom Meer abzuwenden. Ein Blitz, der über dem Ozean herabstürzte, zerriß die Himmelslinie.
»Du hast Roland gern, nicht wahr?« fragte Max, während er mit einer Handvoll Sand zwischen seinen Fingern spielte.
Alicia dachte über die Frage ihres Bruders nach.
»Ja«, antwortete sie schließlich. »Und ich glaube, daß er mich auch mag. Warum, Max?«
Max zuckte mit den Schultern und schleuderte die Handvoll Sand auf die Linie, wo sich das Meer brach.
»Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich habe an das gedacht, was Roland über den Krieg und diese Dinge gesagt hat. Daß sie ihn vielleicht nach diesem Sommer einziehen werden... Egal. Das geht mich nichts an.«
Alicia wandte sich ihrem Bruder zu und suchte Max' ausweichenden Blick. Er zog gerade die Brauen hoch, genau wie Maximilian Carver es zu tun pflegte, und Alicia fiel wieder einmal auf, wie empfindsam und nervös seine grauen Augen wirkten. Sie umschlang mit ihrem Arm Max' Schultern und küßte ihn auf die Wange.
»Laß uns reingehen«, sagte sie, während sie den Sand abschüttelte, der an ihrem Kleid festgeklebt war. »Es ist hier kalt.«
Kapitel 9
A ls sie am Fuß des Weges ankamen, der zum Leuchtturm hinaufführte, spürte Max, wie sich die Muskeln seiner Beine in Butter zu verwandeln schienen. Als sie losgefahren
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