Der Fürst des Nebels
Augen und bleichem Gesicht an der Tür.
»Was ist passiert?« stieß Alicia hervor.
Ihr Vater umarmte sie, und Alicia spürte das Zittern seiner Hände.
»Irina hat einen Unfall gehabt. Sie liegt im Koma.
Wir warten auf den Krankenwagen, damit man sie ins Krankenhaus bringt.«
»Wie geht es Mama?« fragte Alicia leise. »Sie ist drinnen. Bei Irina und dem Arzt. Hier kann man nichts weiter machen«, antwortete der Uhrmacher mit hohl klingender, matter Stimme. Roland, der stumm und unbeweglich unten bei der Treppe stand, schluckte.
»Wird sie wieder gesund?« fragte Max, obwohl er selbst wußte, daß das im Augenblick wohl niemand beantworten konnte.
»Wir wissen es nicht«, murmelte Maximilian Carver und versuchte vergebens, die Kinder anzulächeln. Dann betrat er wieder das Haus. »Ich will nachsehen, ob deine Mutter irgend etwas braucht.«
Die drei Freunde blieben wie angenagelt vor dem Hauseingang stehen, stumm wie Grabmäler. Nach einigen Sekunden brach Roland das Schweigen. »Es tut mir leid...«
Alicia nickte. Kurz darauf bog der Krankenwagen in die Zufahrtsstraße ein und näherte sich dem Haus.
Der Arzt kam heraus, um ihn zu empfangen.
Innerhalb weniger Minuten betraten zwei Sanitäter das Haus und brachten Irina auf einer Bahre heraus, eingehüllt in einen Mantel. Max erhaschte im Vorübergehen einen Blick auf das kreidebleiche Gesicht seiner kleinen Schwester und spürte, wie ihm der Magen in die Knie sank. Andrea Carver stieg mit verkrampftem Gesichtsausdruck und verquollenen und geröteten Augen in den Krankenwagen und warf einen letzten verzweifelten Blick auf Alicia und Max. Die Sanitäter liefen zu ihren Sitzen.
Maximilian Carver näherte sich den beiden Geschwistern.
»Es gefällt mir gar nicht, daß ihr allein hierbleibt.
Es gibt ein kleines Hotel im Dorf, vielleicht ,..« »Es wird uns nichts passieren, Papa. Mach dir jetzt keine Sorgen darum«, erwiderte Alicia. »Ich werde vom Krankenhaus aus anrufen und euch die Nummer geben. Ich weiß nicht, wie lange wir weg sein werden. Ich weiß nicht, ob es etwas ist, das...«
»Warten wir es ab, Papa«, unterbrach ihn Alicia und umarmte ihren Vater. »Alles wird gut ausgehen.«
Unter Tränen lächelte Maximilian Carver ein letztes Mal und stieg dann in den Krankenwagen. Die drei Freunde sahen schweigend zu, wie die Lichter des Krankenwagens sich in der Ferne verloren, während die letzten Sonnenstrahlen auf dem purpurnen Mantel der Abenddämmerung dahin welkten.
»Alles wird gut ausgehen«, wiederholte Alicia für sich selbst.
Das Warten auf die ersten Nachrichten kam ihnen endlos vor, Als das Telefon lautete, zeigten die lächelnden Monde auf dem Zifferblatt von Max' Uhr, daß es kurz vor elf Uhr nachts war. Alicia, die zwischen Roland und Max auf den Treppenstufen vor dem Haus saß, sprang auf und lief hinein. Noch bevor das Telefon zum zweiten Mal geklingelt hatte, nahm sie den Hörer ab. Sie schaute zu Max und Roland und nickte.
»In Ordnung«, sagte sie nach einigen Sekunden. »Wie geht es Mama?«
Max konnte das Murmeln der Stimme seines Vaters durch das Telefon hören.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Alicia, »Nein. Das ist nicht nötig. Ja, es geht uns gut. Ruf morgen wieder an.«
Alicia machte eine Pause und nickte.
»Das werde ich tun«, versicherte sie. »Gute Nacht, Papa.«
Alicia legte den Hörer auf und sah ihren Bruder an.
»Irina ist unter Beobachtung«, erklärte sie. »Die Ärzte haben gesagt, daß sie eine Gehirnerschütterung hat, aber sie liegt noch immer im Koma. Sie sagen, daß sie wieder gesund wird.«
»Bist du sicher, daß sie das gesagt haben?« entgegnete Max. »Und Mama?«
»Das kannst du dir denken. Sie bleiben heute nacht dort. Mama will nicht in ein Hotel gehen. Sie werden morgen vormittag noch einmal anrufen.«
»Und was nun?« fragte Roland zaghaft.
Alicia zuckte mit den Schultern und versuchte, ein beruhigendes Lächeln auf ihr Gesicht zu bringen.
»Hat jemand Hunger?« fragte sie die beiden Jungen.
Max war über sich selbst erstaunt, als er entdeckte, daß er tatsächlich hungrig war. Alicia seufzte.
»Mir scheint, wir drei könnten ein Abendessen gut vertragen«, entschied sie. »Hat jemand was einzuwenden?«
Die beiden Jungen waren einverstanden, und so schmierte Max ein paar belegte Brote, während Alicia Zitronen auspreßte, um Limonade zu machen.
Die drei Freunde aßen auf der Bank vor dem Hauseingang zu Abend, unter dem schwachen Schein einer fahlgelben Laterne, die in der nächtlichen Brise hin und her schwankte,
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