Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Titel: Der Fundamentalist, der keiner sein wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mohsin Hamed
Vom Netzwerk:
Jersey – wohin ich dann täglich pendelte – und war von der rückläufigen Investitionsbereitschaft auf dem Technologiesektor im Allgemeinen und bei kleinen Breitband-Anbietern im Besonderen hart getroffen worden; sie konnte kaum noch ihre Schulden begleichen und war ein heißer Kaufkandidat geworden.
    Diesmal war dem Kunden das Potenzial für künftiges Wachstum gleichgültig. Nein, unser Auftrag bestand darin zu ermitteln, wie viel Fett sich herausschneiden ließ. Callcenter, das war klar, konnten outgesourct werden, der Außendienst reduziert, der Einkauf mit den bestehenden Geschäftsbereichen unseres Kunden zusammengelegt werden. Das Potenzial für eine Reduzierung der Belegschaft war beträchtlich, entsprechend frostig war der Empfang, den uns die Angestellten der Firma bereiteten. Unsere Telefone und Faxgeräte funktionierten plötzlich nicht mehr, unsere Sicherheitsausweise und Notebooks verschwanden. Häufig hatte mein Mietwagen einen Platten, wenn ich auf den Parkplatz kam – zu häufig, als dass es Zufall hätte sein können.
    Einmal passierte es, als Jim für einen Tag hergekommen war; er hatte mich gebeten, ihn in die Stadt mitzunehmen. Er schüttelte den Kopf, als ich den Ersatzreifen herausholte. »Lassen Sie das nicht an sich rankommen, Changez«, sagte er. »Die Zeit bewegt sich nur in eine Richtung. Denken Sie daran. Die Dinge verändern sich ständig.« Er löste das Metallband seiner Uhr, ein solider Tauchchronometer, und ließ sie bis auf die Knöchel rutschen. »Als ich am College war«, fuhr er fort, »ging es der Wirtschaft ziemlich mies. Es war in den Siebzigern. Stagflation. Dennoch konnte man die Chancen förmlich riechen. Amerika bewegte sich von der Produktion zur Dienstleistung, ein gewaltiger Wandel, größer als jeder, den wir bis dahin erlebt hatten. Mein Vater hatte bis zu seinem Tod Dinge mit den Händen hergestellt, ich habe also aus unmittelbarer Nähe erlebt, dass diese Zeit vorbei war.« Er drückte das Uhrarmband wieder zu. Dann machte er eine Faust und drehte den dicken Unterarm hin und her, ganz langsam, bis das Instrument seine Position gefunden hatte. Seine Bewegungen hatten fast etwas Rituelles, als legte ein Schlagmann – fast würde ich sagen, ein Ritter – seine Handschuhe an, bevor er den Kampfplatz betritt.
    »Die Wirtschaft ist ein Tier«, fuhr Jim fort. »Sie entwickelt sich. Erst brauchte sie Muskeln. Dann strömte alles verfügbare Blut in ihr Gehirn. Und da wollte ich sein. Im Finanzwesen. Im Koordinierungsgeschäft. Und da sind auch Sie . Sie sind Blut, das von einem Körperteil herangeschafft wurde, das für die Spezies keine Funktion mehr hat. Vom Steißbein. Wie ich auch. Wir kamen von Stellen, die langsam verkümmerten.« Ich hatte den Reifen gewechselt, also schloss ich den Kofferraum und entriegelte die Türen. »Den meisten ist das nicht klar, mein Junge«, sagte er, während er sich neben mich zwängte und mit dem Kopf auf das dunkle Gebäude zeigte, das wir verlassen hatten. »Die versuchen, sich dem Wandel zu widersetzen. Mächtig wird man, wenn man selbst zum Wandel wird.«
    Ich ließ mir durch den Kopf gehen, was Jim gesagt hatte – an dem Abend auf der Fahrt nach Manhattan und auch in den Wochen darauf. Seine Worte enthielten etwas Wahres, aber ich konnte mich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass der Ort, von dem ich kam, zum Absterben verdammt war. Also verweilte ich lieber bei dem positiven Aspekt seiner kleinen Predigt: bei dem Gedanken, dass ich mir mit meinem Ehrgeiz einen Bereich gesucht hatte, der von immer größerer Bedeutung für die Menschheit sein und mir daher wahrscheinlich ein immer weiter steigendes Einkommen bescheren würde. Auch fand ich mich besser gerüstet, die Abneigung, die um uns brodelte, als wir in jenem Herbst in der Firma in New Jersey unserer Arbeit nachgingen, als töricht oder wenigstens kurzsichtig anzusehen.
    Aber es wäre nicht richtig zu sagen, dass ich völlig unbeschwert war. Unter den Mitarbeitern der Kabelfirma waren auch Ältere. Manchmal saß ich in der Caféteria in ihrer Nähe – wenn auch nie am selben Tisch; die Plätze neben unserem Team blieben immer leer –, und ich stellte mir vor, dass viele von ihnen Kinder in meinem Alter hatten. Wenn das Englische eine respektvolle Form des du hätte – wie wir im Urdu –, dann hätte ich sie, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, damit angeredet. So aber ließ mir der Rahmen unserer Begegnungen nur minimalen Raum, ihnen meine Achtung – oder gar

Weitere Kostenlose Bücher