Der Fundamentalist, der keiner sein wollte
ernten.
Rückblickend erkenne ich nun, dass dieser Situation eine gewisse Symmetrie anhaftete: Ich spürte, dass ich in New York in genau die soziale Schicht eintrat, aus der meine Familie in Lahore zunehmend herausfiel. Vielleicht erklärte das zu einem Großteil das Behagen und die Befriedigung, die ich in meiner neuen Umgebung fand. Doch ein noch größerer Teil meines Glücks jener Tage ging darauf zurück, dass ich regelmäßig in Ericas Gesellschaft war. Ich konnte sie, ungelogen, stundenlang betrachten. Der Stolz in ihrer Haltung, die muskulöse Schlankheit ihrer Arme und Schultern, das Unvermögen ihrer Kleider, die Erinnerung an die nackten Brüste zu verhüllen, die ich in Griechenland gesehen hatte: All das erfüllte mich mit Begehren.
Doch ebenso erfüllte mich Fürsorglichkeit. Häufig, wenn wir inmitten einer makellos gekleideten Menge standen oder saßen, beobachtete ich, dass sie völlig losgelöst war, versunken in ihre eigene Welt. Ihr Blick war nach innen gerichtet, und Bemerkungen ihrer Begleiter waren ihrem Gesicht nur indirekt abzulesen, so wie Wolkenschatten, die über einen See gleiten. Sie lächelte, wenn man sie darauf aufmerksam machte, dass sie abwesend wirkte, und sagte, sie sei mal wieder geistig weggetreten . Doch ich vermutete zunehmend, dass ihre Pausen nicht lediglich der Geistesabwesenheit geschuldet waren; nein, sie kämpfte gegen einen Strom an, der sie mitzureißen drohte, und ihr Lächeln enthielt die Furcht, sie könnte in ihre eigenen Tiefen abgleiten, wo sie gefangen wäre und nicht atmen könnte. In diesen Momenten wünschte ich, ich könnte ihr Anker sein, ohne so geschmacklos zu sein, sie spüren zu lassen, dass dies eine Rolle war, die meiner Meinung nach irgendwer bei ihr übernehmen musste. Ich fand heraus, dass ich ihr dies am besten vermittelte, indem ich eine Berührung mit ihr provozierte, zum Beispiel meine Hand auf den Tisch so dicht wie möglich an ihre legte, ohne dabei Kontakt herzustellen, und dann darauf wartete, dass sie sich meiner körperlichen Präsenz bewusst würde, worauf sie, als erwachte sie aus einem Traum, den Kopf schütteln und die Kluft zwischen uns mit einer kleinen Zärtlichkeit überbrücken würde.
Vielleicht hielt mich aber gerade diese Fürsorglichkeit davon ab, Erica zu küssen; ebenso mochten es Schüchternheit und Ehrfurcht gewesen sein, die Begleiter der ersten Liebe. Wie auch immer, mehrere Wochen vergingen, bis Erica mich eines Abends, nach einem burmesischen Essen im East Village, ihre Freunde winkten schon Taxis heran und gingen auseinander, zurückhielt. »Ich muss dir was erzählen«, sagte sie. »Ich möchte feiern.« »Warum?«, fragte ich. »Weil«, sagte sie breit lächelnd und drückte die Fingerspitzen zusammen, »weil ich einen Agenten habe!« Ihre anfänglichen Versuche, ihr Manuskript wahllos anzubieten, seien erfolglos geblieben, erklärte sie. Unlängst habe sie es aber an eine Agentur geschickt, die einen Freund der Familie vertrat, und nun habe eben am Nachmittag ein Junioragent eingewilligt, sie anzunehmen. Bedenken habe er nur bezüglich der Länge – da die Novellenform, so seine Worte, eine knifflige Sache sei –, doch nach einigem Nachdenken sei er zu dem Schluss gekommen, sich bei einigen Verlagen dafür starkzumachen. Ich gratulierte ihr und sagte, ich wolle sie liebend gern bei jedem Abenteuer begleiten, das sie für den Abend vorhabe; sie schlug vor, eine Magnumflasche Champagner zu kaufen und damit in meine Wohnung zu gehen, die gleich um die Ecke lag.
Das sagte sie, als sei es das Natürlichste auf der Welt; ich bekundete ebenso locker lächelnd – so gut ich eben konnte – meine Zustimmung. Aber uns beiden war klar, das kann ich wohl mit Sicherheit sagen, dass allem, was wir taten, nun eine gewisse Schwere anhaftete. Ich jedenfalls stellte mich ungewöhnlich ungeschickt an, als ich in meiner Tasche kramte, erst in einem Spirituosenladen nach Geld, später auf der Treppe vor meinem Haus nach den Schlüsseln. Es war ein frischer Oktobertag, und Erica trug warme Sachen; drinnen zog sie ihre ärmellose Jacke und ihren Baumwollpullover aus, streifte eine Schicht nach der anderen ab, bis sie nur noch ihre Lieblingskleidung trug: T-Shirt und Jeans. Mangels einer Kerze schaltete ich den Fernseher an und drückte die Stummtaste, wodurch ich den Raum in ein matt flackerndes Licht tauchte. Wir tranken aus zwei schön verzierten Silberbechern, ein Examensgeschenk eines Onkels, weswegen der Champagner einen
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