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Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Titel: Der Fundamentalist, der keiner sein wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mohsin Hamed
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sein, aber soweit ich sehe, bringen Sie gar nichts. Sagen Sie mir, was Sie brauchen. Brauchen Sie Hilfe bei Ihrem Modell, mehr Anleitung? Sagen Sie’s mir, und Sie kriegen es, aber kommen Sie um Gottes willen in die Hufe.« Er hatte als Manager einen hervorragenden Ruf, und ich hatte mir auch überlegt, ob ich ihm das Durcheinander, das in mir herrschte, enthüllen sollte, doch auf der menschlichen Ebene war unsere Verbindung gleich null. Also entschuldigte ich mich, sagte, sein Feedback habe es genau getroffen, aber er müsse sich keine Sorgen machen, denn ich wolle von nun an mit doppelter Kraft arbeiten. »Alles«, sagte ich, wobei ich einen Ton maximaler Beruhigung aufbot, »ist unter Kontrolle.«
    Eine Zeitlang schien er sich damit zufriedenzugeben, auch wenn es die reine Unwahrheit war. Doch ich wusste, dass er sich nun richtig über mich ärgerte – und das zu Recht: Indem ich nicht nach Plan arbeitete, ließ ich ihn schlecht dastehen –, und auch ich ärgerte mich zunehmend über ihn. Ich konnte ihn nicht respektieren, wie er, so vollständig eingetaucht in die Strukturen seines beruflichen Mikrouniversums, funktionierte. Ja, auch ich hatte zuvor in den Mahnungen der Firma, mich voll und ganz auf die Arbeit zu konzentrieren, Trost gefunden, nun aber erkannte ich, dass in diesem beständigen Streben nach einer finanziellen Zukunft die wesentlichen persönlichen und politischen Themen, die das emotionale Jetzt eines Menschen berühren, in keiner Weise berücksichtigt wurden. Mit anderen Worten, meine Scheuklappen fielen ab, und die jähe Erweiterung meines Gesichtskreises blendete mich und machte mich handlungsunfähig.
    Ich merkte, dass Juan-Bautista mich beobachtete, wie ich halbherzig von einem Meeting zum nächsten schlurfte. Er hatte seine Tür offen stehen, und sein Schreibtisch war so aufgestellt, dass er den Gang überblicken konnte. Einmal, als ich vorbeiging, rief er mich zu sich herein. »Ich habe mir mal«, sagte er, »das mit den zeitgenössischen Dichtern des Punjab angesehen. Sagen Sie, wie hieß der Onkel Ihres Vaters?« Ich sagte es ihm, und er nickte; er hatte ihn tatsächlich in einer Anthologie, die in spanischer Übersetzung vorlag, erwähnt gefunden. Darüber war ich freudig überrascht, doch bevor ich etwas sagen konnte, fuhr er fort: »Sie scheinen mir ganz anders als Ihre Kollegen zu sein. Sie kommen mir etwas verloren vor.« »Überhaupt nicht«, sagte ich verblüfft. Dann: »Allerdings muss ich sagen, dass Valparaiso mich ziemlich berührt.« Er meinte, ich solle doch mal Pablo Nerudas Haus besuchen, aber am Tag, da es abends geschlossen sei, und damit endete unser kurzes Gespräch.
    Ich habe nie erfahren, warum Juan-Bautista ausgerechnet mit mir sprechen wollte. Vielleicht war er mit einem bemerkenswerten Einfühlungsvermögen gesegnet und hatte in mir ein Dilemma wahrgenommen, aus dem er mir, wie er aus Mitleid glaubte, heraushelfen könnte; vielleicht sah er unter seinen Feinden auch einen, der schwach war und den er leicht erledigen konnte; vielleicht war es auch reiner Zufall. Es mag sentimental sein, aber ich würde gern die erste dieser Möglichkeiten annehmen. Wie auch immer, Juan-Bautista gab den entscheidenden Impuls für den Wendepunkt meiner Reise, und diese Reise dauert bis zum heutigen Tage an ...
    Aber ich greife vor, und da ist ja auch schon unser Nachtisch. Er hat nur eine Schale gebracht; ich hatte das Gefühl, Sie wollten höchstens einmal probieren, und dasselbe gilt auch für mich, da ich ziemlich satt bin. Nun, Sir? Die Art, wie Sie den Mund verziehen, verrät nichts Gutes. Zu süß, sagen Sie? Interessant, ich hatte immer den Eindruck, dass Ihr Land, was die Intensität seines Verlangens nach Süßigkeiten betrifft, dem meinen recht ähnlich ist. Aber vielleicht sind Sie ja atypisch; Ihre Reisen haben Sie weit weg von den allgegenwärtigen Milchbars und Eiscafés Ihres Mutterlandes geführt.
    Auch ich war in jenem Januar weit weg, doch Nerudas Heimat schien mir nicht so fern von Lahore, wie es tatsächlich der Fall war; geografisch war sie natürlich wohl der entlegenste Ort, der auf dem Erdball zu finden war, doch im Geiste schien sie nur einen imaginären Karawanenritt oder eine nächtliche Fahrt auf dem Ravi oder Indus von meiner Stadt weg. Ich sagte dem Vizepräsidenten, ich wolle ein Auslieferungslager inspizieren, und mit dieser Entschuldigung ging ich hinaus in die Berge, stieg immer höher hinauf, bis ich, als ich auf den Ozean schaute, plötzlich

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