Der Funke des Chronos
ich spreche.«
Tobias seufzte. Er konnte sich verstellen, wie er wollte, Gerresheimer wusste immer, was in ihm vorging. Das war schon seit seinem ersten Semester so gewesen. Damals hatte er beim Unisport Badminton belegen wollen. Doch dann war ihm Gerresheimer begegnet, der am schwarzen Brett gerade einen Aushang seiner Schule anbrachte. Sie waren ins Plaudern geraten, schließlich hatte ihm der Fechtlehrer eine kostenlose Probestunde angeboten.
Gerresheimer hatte ihm offenbar an den Augen abgelesen, dass er für diesen Sport Talent hatte. Dabei war er anfangs skeptisch gewesen. Tobias erinnerte sich noch genau daran, dass er die Fechterei immer mit schlagenden Verbindungen gleichgesetzt hatte; bierselige Saufgelage unter Absingen deutschen Liedgutes inklusive. Aber er hatte sich geirrt. Sehr sogar. Heute konnte er sich ein Leben ohne Fechtsport nicht mehr vorstellen. Gerresheimers Gespür für seine Gedanken und Gefühle war manchmal geradezu unheimlich. Zumindest durfte er es als Auszeichnung betrachten, dass sich Gerresheimer bis heute persönlich um seine Fortbildung kümmerte. Die meisten anderen Schüler wurden von Assistenten unterrichtet.
»Na gut, ich versuch, dran zu denken«, murmelte Tobias. »Ich hole mir am Samstag den Titel. So oder so.«
»Richtig. Das ist die angemessene Einstellung.« Gerresheimer zwinkerte ihm aufmunternd zu.
Als Tobias endlich im Umkleideraum stand, war er froh, allein zu sein. Der gewöhnliche Fechtunterricht begann erst um 15 Uhr. Er gehörte zu den wenigen, die sein Lehrer bereits am Vormittag in die Mangel nahm. Niedergeschlagen setzte er sich und konnte nur mit Mühe das Bedürfnis unterdrücken, auf die Metalltür seines Spinds einzudreschen.
Freundschaft mit Katja? War das überhaupt vorstellbar? Tobias zuckte die Achseln. Vielleicht irgendwann einmal. Im Moment vermied er es lieber, seiner Exfreundin über den Weg zu laufen. Tatsächlich war ihm alles andere als wohl zumute, wenn er an das bevorstehende Wochenende dachte. Hoffentlich ging es Katja ebenso. Und hoffentlich brachte sie diesen Schleimer Rainer nicht mit. Schon schlimm genug, sich vorzustellen, was die beiden jetzt vielleicht gerade miteinander trieben.
Es wurde wirklich Zeit, dass er auf andere Gedanken kam. Außerdem wollte er vor der Uni noch seine Digitalkamera zur Reparatur bringen. Nicht dass er mit großer Begeisterung fotografierte, aber auf der Speicherkarte befanden sich noch immer Bilder von ihm und Katja, die sich so nicht herunterladen ließen.
Seufzend trat Tobias unter die Dusche und ließ das heiße Wasser so lange über den Körper laufen, bis er das Gefühl hatte, die Haut werfe Blasen. Die düsteren Gedanken glitten dennoch nur langsam von ihm ab. Anschließend zog er sich um, packte seine Sporttasche und schlurfte zum Ausgang der Sportschule.
Als er das Foyer betrat, schaffte Gerresheimer dort gerade Platz für ein neues Gemälde. Noch lag es in braunes Packpapier eingewickelt auf dem Empfangstresen. Tobias musste lächeln. Wie andere Leute Briefmarken, sammelte sein Fechtlehrer alte Kunstgegenstände und antiquarische Bücher. Der Raum ähnelte eher dem Museum für Hamburgische Geschichte als dem Eingangsraum einer Sportstätte. Wohin auch immer er blickte, zierten kleine und große Ölgemälde die Wände, die Hamburg von der Zeit der Stadtgründung um 800 bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert zeigten. Natürlich alles Originale alter Hamburger Meister. Bilder der St.-Michaelis-Kirche, dem Wahrzeichen der Stadt, von den Hamburgern liebevoll »Michel« genannt, befanden sich ebenso darunter wie Abbildungen der einstigen Hammaburg, von der die Stadt ihren Namen ableitete, oder vom Hamburger Dom, an den heute nur noch der Jahrmarkt auf dem Heiligengeistfeld erinnerte. Und Gerresheimer wusste zu jedem der Gemälde eine Anekdote zu erzählen, wenn man ihn nur ließ.
»Na, wieder ein Stück Tapete gespart?«
»Reine Mängelverwaltung«, flachste der Fechtlehrer. »Wenn mein bestes Pferd im Stall am Wochenende nicht gewinnt, wird es wohl nichts mit neuen Fechtschülern. Dann muss ich auch den Schimmel in den Umkleidekabinen mit Bildern abdecken.«
»Bloß nicht«, feixte Tobias. »Ich hatte mich gerade an das bisschen Natur gewöhnt.«
Gerresheimer schmunzelte und fuhr sich nachdenklich durch den Bart. »Bevor du gehst, kannst du mir noch kurz helfen.« Er nahm das Bild einer Kogge namens Bunte Kuh von der Wand, mit der einst der berühmte Pirat Störtebeker aufgebracht worden war, und
Weitere Kostenlose Bücher