Der Funke des Chronos
Segeltörn auf der Jacht ihrer Eltern. Auf fast allen Bildern war Katja zu sehen. Immer lachte sie. Und jederzeit gelang es ihr, sich verführerisch in Pose zu setzen. Selbst jetzt hatte er noch das Gefühl, sie necke ihn. Verflucht, warum war er nur so in sie vernarrt? Auf den letzten beiden Bilderserien war auch Rainer zu sehen. Gut, Rainer war recht athletisch, aber wenn man genauer hinsah, bemerkte man, dass seine Ohren leicht abstanden und er schon jetzt eine deutliche Neigung zu Geheimratsecken hatte. Das hatte Katja trotzdem nicht daran gehindert, sich hinter seinem Rücken mit ihm einzulassen. Wieso war ihm nie dieser Blick aufgefallen, mit dem Rainer Katja bedacht hatte? Auf den Fotos war das überhaupt nicht zu übersehen.
Ohne Katja und Rainer würde es dieses Jahr ziemlich einsam werden.
Verdammtes Selbstmitleid! Es war zum Kotzen.
Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte Katja in all der Zeit doch bloß mit ihm gespielt. Meine Güte, welch ein Trottel war er gewesen, das nicht rechtzeitig zu begreifen!
Tobias nahm die CD wieder in die Hand und schleuderte sie irgendwo hinter sich auf einen Berg Schmutzwäsche. Er ertrug es nicht länger, an diese alten Wunden zu rühren. Außerdem hatte er längst beschlossen, die Anatomievorlesung ausfallen zu lassen. Bei seinen Kommilitonen hatte er ohnehin schon den Ruf des Strebers weg.
Vielleicht besuchte er über Weihnachten seinen alten Freund Andreas? Im Gegensatz zu ihm hatte der wenigstens Pflegeeltern. Hoffentlich verzieh ihm Andy, dass er sich in den letzten zwei Jahren nur so selten bei ihm gemeldet hatte.
Er konnte auch mal wieder ein gutes Buch lesen.
Ob er Katja wohl überfordert hatte?
In diesem Moment summte es an der Wohnungstür. Wer konnte das sein? Katja? Nein. Und wenn doch? Tobias sprang auf und ärgerte sich über den Berg ungespülten Geschirrs, der in der Kochnische vor sich hin muffelte. Hastig sammelte er die Kleidungsstücke auf, die über das ganze Zimmer verstreut lagen, und hob sogar die Foto-CD wieder auf. Sollte er ihr einfach eine Kopie davon machen? Keine schlechte Idee …
Aufgeregt fuhr er sich noch einmal durchs Haar. Dann, endlich, warf er einen Blick durch den Türspion, allerdings nur um enttäuscht die Schultern sinken zu lassen. Im Gang stand Frau Wachholz mit ihrem Köter. Ausgerechnet.
Tobias zwang sich zu einem unverbindlichen Lächeln und öffnete die Tür.
»Ah, da sind Sie ja.« Ein breites Lächeln huschte über das dicke Mopsgesicht seiner Nachbarin. Wie immer ging von ihrem blauen Arbeitskittel der Geruch von Bohnerwachs und Scheuerseife aus. In ihren Armen lag ihr Dackel, der Tobias gelangweilt anhechelte. Vielleicht raubte ihm aber auch die Oberweite seiner Besitzerin den Atem.
»Hab mir gedacht, dass Sie da sind. Schon wie unten die Haustür geklappt hat«, plapperte sie munter drauflos. »Punzel, hab ich da gesagt, Punzel, ich glaub, der künftige Herr Doktor ist wieder da. War bestimmt bei seinem Fechten.«
Verwirrt blickte der Köter auf, als er seinen Namen hörte. Frau Wachholz merkte davon nichts, sie war vielmehr damit beschäftigt, an Tobias vorbei einen neugierigen Blick in seine Wohnung zu werfen. »Ihre Freundin war wohl schon lange nicht mehr da, was? Sie leben ja in einer richtigen Junggesellenbude.«
»Hatte ziemlich viel mit Klausuren zu tun«, log Tobias und versuchte, die Tür etwas zuzuziehen.
»Ja ja, und da sagt man immer, Studenten würden den lieben langen Tag faulenzen.«
Tobias lachte gezwungen. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ein Briefträger hat was für Sie abgegeben. Ein Paket. Sicher ein Weihnachtsgeschenk oder so. Warten Sie mal.«
Frau Wachholz ließ den Dackel zu Boden plumpsen, der sich sofort hinlegte und wie blöde ins Treppenhaus stierte. Dann eilte sie in die Nachbarwohnung. Kurz darauf kam sie mit einem gelben Postkarton wieder zurück. »Da ist es.«
Tobias nahm ihr das Paket aus der Hand und hob überrascht eine Augenbraue. Richtig, das hatte er völlig vergessen. Wie in jedem Jahr kurz vor Weihnachten. Schon seit seiner Zeit im Waisenhaus ließ ihm ein Unbekannter regelmäßig zum Fest Geschenkpakete zukommen. Als er jünger war, waren es Spielsachen gewesen, später Geld und Kleidungsstücke, im letzten Jahr stand ein PC samt Drucker vor seiner Tür. Schon oft hatte er sich gefragt, wer dahinterstecken mochte. Seine Eltern?
Er wusste nicht, wer sie waren und wo sie lebten. Sie hatten ihn als kleinen Jungen einfach vor den Stufen des Rauhen Hauses
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