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Der futurologische Kongreß

Der futurologische Kongreß

Titel: Der futurologische Kongreß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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aus Eis gemacht. Ich auch. Hübsch, diese Gletscher. Wenn es bloß nicht so saukalt wäre! Eisnadeln und Schneekristalle. Arktis. Eisscholle im Maul. In den Knochen – – Mark? Wieso Mark? Nein, reines glasklares Eis. Es ist eisig und starr. Gefriergemüse – das bin ich! Aber was heißt »ich«? Das ist die Frage. Noch nie war es so kalt. Zum Glück weiß ich nicht, wem. Mir? Was heißt »mir«? Wem? Dem Gletscher? Ob Eisberge Löcher haben? Ich bin ein Winterblumenkohl im Sonnenschein. Frühling! Schon taut alles auf. Insbesondere ich. Im Mund steckt ein Eiszapfen oder aber eine Zunge. Also doch die Zunge. Sie martern mich, wälzend, knickend, reibend und, „wie mir scheint, sogar hauend. Ich liege unter einer Kunststoffplane. Über mir – Lampen. Also dadurch verfiel ich auf diesen Blumenkohl im Treibhaus. Ich muß mir etwas vorgefiebert haben. Weiß ist es hier, überall weiß. Aber das ist nicht Schnee, das sind die Wände. Die haben mich aufgetaut. Zum Dank habe ich beschlossen, ein Tagebuch zu schreiben, sobald ich die Feder zwischen den klammen Fingern werde halten können. In den Augen habe ich noch immer eisige Regenbogenfarben und blaues Glitzern. Teuflische Kälte. Aber nun kann ich mich schon wärmen. 27. 7. Meine Neubelebung soll drei Wochen erfordert haben. Es gab da Schwierigkeiten. Ich sitze im Bett und schreibe. Mein Zimmer ist tagsüber groß und abends klein. Junge hübsche Frauen mit Silbermasken sind meine Pflegerinnen. Manche haben keine Brüste. Ich sehe doppelt, oder aber der Chefarzt hat zwei Köpfe. Die Verpflegung ist ganz normal. Weizengrütze, Stollen, Milch, Haferflocken, Beefsteak. Die Zwiebeln leicht angebrannt. Gletscher erscheinen mir nur noch im Traum, aber dort mit gräßlicher Ausdauer. Ich friere ein, beeise und vereiszapfe mich, über und über beschneit und knirschend von spät bis früh. Wärmeflaschen und Umschläge nützen nichts. Am ehesten hilft noch Weingeist vor dem Einschlafen. 28. 7. Diese Frauen ohne Brüste, das sind die Studenten. Anders lassen sich die Geschlechter gar nicht mehr unterscheiden. Alle Leute sind groß und hübsch und lächeln immerzu. Ich bin schwach, launisch wie ein Kind, alles stört mich. Heute nach der Injektion stieß ich die Nadel ins Sitzfleisch der Oberschwester. Sie aber lächelte mich sofort wieder an. Manchmal scheine ich mit meiner Eisscholle davonzutreiben – will sagen, mit dem Bett. Auf die Zimmerdecke projizieren sie mir Häschen, Emschen, Kühchen, Würmchen und Mistkäferchen. Warum? Ich bekomme die Kinderzeitung. Aus Versehen? 29. 7. Ich ermatte rasch. Aber ich weiß schon: früher, das heißt, zu Beginn der Neubelebung, da fieberte ich mir etwas vor. Angeblich hat das so zu sein. Das ist normal. Die Ankömmlinge aus den fernen Jahrzehnten werden allmählich an das neue Leben gewöhnt. Der Vorgang erinnert an die Bergung von Tauchern, die ja aus großer Tiefe nicht jählings heraufgeholt werden dürfen. So auch der Tauling (dies ist das erste neue Wort, da ich lernte); schrittweise wird er auf die ihm unbekannte Welt vorbereitet. Wir schreiben das Jahr 2039. Jetzt ist Juli. Sommer. Schönes Wetter. Meine persönliche Pflegerin heißt Aileen Rogers. Sie ist dreiundzwanzig und hat blaue Augen. Wiedergeboren wurde ich in einem Revitarium bei New York. Anders gesagt – in einer Aufersteherei. So nennen das die Leute. Das ist fast eine Stadt für sich, eine Gartenstadt. Eigene Mühlen, Bäckereien, Druckereien. Denn anderswo gibt es kein Getreide und keine Bücher mehr. Aber es gibt Brot, Sahne zum Kaffee und auch Käse. Nicht von der Kuh? Die Pflegerin dachte, »Kuh« sei der Name einer Maschine. Ich kann mich nicht verständlich machen. Wo kommt die Milch her? Vom Gras. Versteht sich, vom Gras, aber wer frißt es, so daß es zu Milch wird. Niemand frißt es. Woher kommt also die Milch. Aus dem Gras. Von selbst? Von selbst wird sie daraus? Nein, nicht von selbst. Das heißt, nicht ganz von selbst. Man muß mithelfen. Die Kuh hilft mit? Nein. Welches Tier denn sonst? Gar kein Tier. Wo kommt also die Milch her? – Und so weiter, immer im Kreis herum.
    30. 7. 2039. Ganz einfach. Sie schütten etwas auf die Weideflächen, und wenn dann Sonnenstrahlen darauf einwirken, wird das Gras zu Käse. Über die Milch bin ich noch nicht im Bilde, aber schließlich gibt es Wichtigeres. Ich darf schon aus dem Bett – und aufs Wägelchen. Heute war ich an einem Teich mit vielen Schwänen. Die sind folgsam; wenn man sie ruft, schwimmen sie

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