Der futurologische Kongreß
herbei. Dressiert? Nein, die sind fern. – Was heißt das? Wovon sind sie fern? – – Ferngesteuert. – Seltsam. Die natürliche Vogelwelt ist nicht mehr vorhanden. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist sie ausgestorben. Schuld war der Smog. Das leuchtet mir wenigstens ein. 31.7. 2039. Neuerdings besuche ich den Kurs Zeitgenössischen Lebens. Den erteilt ein Computer. Er beantwortet nicht alle Fragen. »Das wirst du später erfahren« – heißt es. Seit dreißig Jahren herrscht auf der Erde dauerhafter Friede aufgrund allgemeiner Abrüstung. Es gibt kaum noch Militär. Mein Ausbilder hat mir schon Modelle von Robotern gezeigt. Es gibt viele, verschiedene, aber nicht in den Revitarien – um die Taulinge nicht zu verschrecken. Alle Welt lebt im Wohlstand. Das, wonach ich immerfort frage, ist laut Bescheid meines Erziehers nicht das Wichtigste. Der Kurs findet an einem Pult in einer kleinen Kabine statt. Wort, Bild und dreidimensionale Projektionen. 5. 8. 2039. Schon in vier Tagen soll ich das Revitarium verlassen. Auf der Erde leben 29,5 Milliarden Menschen. Es gibt Staaten und Grenzen, aber keine Konflikte. Der Hauptunterschied zwischen einstigen und jetzigen Menschen ist mir heute mitgeteilt worden. Grundbegriff ist jetzt die Psychemie. Wir leben in einer Psivilisation. Das Stichwort »Psychisches« scheint nicht mehr auf. Jetzt kennt man nur »Psychemisches«. Der Computer sagt, der Widerspruch zwischen dem Neuhirn und unserem tierischen Erbteil, dem Stammhirn, habe vormals die Menschheit zerrüttet. Das Alte ist triebhaft, irrational, ichsüchtig und sehr verbohrt. Das Neue zerrte hierhin, das Alte dorthin. Verwickelte Belange kann ich noch nicht gut in Worte fassen. Das Alte raufte ständig mit dem Neuen. Will sagen, das Neue mit dem Alten. Diese inneren Kämpfe, diesen sinnlosen Verschleiß von Geisteskräften hat erst die Psychemie beendigt. Um unser Stammhirn kümmern sich jetzt die Psychemikalien. Sie versöhnen, mäßigen und beschwichtigen es von innen heraus und in Güte. Spontanen Gefühlen darf nichts überlassen bleiben; das wäre unanständig. Zu jedem Anlaß ist das entsprechende Fertigpräparat einzunehmen. Es hilft, stützt, lenkt, ertüchtigt und glättet. Im übrigen ist das kein Es; das ist ein Teil meiner selbst, ein erworbenes Organ, wie die Brille eines Menschen, der ohne Brille schlecht sieht. Diese Unterweisungen verstören mich. Mir bangt vor dem Kontakt mit den neuen Menschen. Ich will keine Psychemikalien einnehmen. Der Erzieher bezeichnet dieses Widerstreben als etwas Typisches und Natürliches: genauso hätte sich ein Höhlenmensch gegen die Trambahn gesträubt.
8. 8. 2039. Mit der Pflegerin war ich in New York. Grüne Unermeßlichkeit. Die Flughöhe der Wolken läßt sich steuern. Luft wie im Wald. Die Passanten auf der Straße sind edel von Angesicht, tragen papageibunte Kleider, sind nett zueinander und lächeln. Niemand hetzt sich ab. Die Damenmode – wie immer ein wenig närrisch: auf der Stirn tragen die Frauen bewegliche Ansichtsbildchen; aus den Ohren ragen kleine knallrote Züngelchen oder Knöpfchen. Außer den natürlichen Händen kann man Filialen tragen, abschnallbare Zusatzhändchen. Viel können diese Hände nicht tun, aber immerhin – etwas halten, die Tür öffnen, zwischen den Schulterblättern kratzen. Morgen verlasse ich das Revitarium. Amerika hat zweihundert derartige Anstalten. Dennoch ergeben sich Verspätungen beim Auftauen der Scharen, die sich im vorigen Jahrhundert vertrauensvoll ins Eisbad gelegt haben. Die Rücksicht auf diese steifstarren Warteschlangen nötigt zu beschleunigten Wiedereingliederungsmaßnahmen. Das verstehe ich vollauf. Ich habe ein Bankkonto, so daß ich erst nach Neujahr Arbeit suchen muß. Für jeden Tiefkühlpatienten wird nämlich ein Zinseszinsensparbuch angelegt: sogenannte eingefrorene Summen mit Auferstehung auf Ziel. 9. 8. 2039. Heute ist dieser für mich so wichtige Tag. Ich habe schon ein Dreizimmerwohn in Manhattan. Anreise per Packschrauber geradewegs aus dem Revitarium. Jetzt bezeichnet man das sehr kurz und bündig: »pack dich« und »schraub dich«. Doch mir entgeht der Unterschied zwischen den Bedeutungen dieser beiden Verben. New York, einst eine mit Autos verstopfte Müllhalde, hat sich in ein System vielstöckiger Gärten verwandelt. Das Sonnenlicht wird durch Leitungen gepumpt; sie heißen »Soladukte«. So artige Kinder ohne Launen hat es zu meiner Zeit nicht gegeben, außer in frömmelnden Lesebuchgeschichten.
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