Der Gang vor die Hunde (German Edition)
Ratlosigkeit sind.« (B, S. 498 )
Kästner konnte sich auf viele Anregungen für die ›sittengeschichtliche‹ Seite seines Romans berufen. Im Vergleich zur in erster Linie ›schlüpfrig‹ gemeinten Literatur der Zeit beeindruckt sein Text freilich immer noch durch seine entspannte Offenheit; er behandelt das Thema differenziert, Sexualität und Promiskuität sind keineswegs nur als ›Sodom und Gomorrha‹ dargestellt. Verhältnisse wie die im Roman beschriebenen kann Kästner selbst erlebt oder gesehen haben; so könnte die Chansonette und Schauspielerin Rosa Valetti ein Vorbild für Irene Moll sein. Kästner muss sie gekannt haben, in seinen Rezensionen wird sie mehrfach erwähnt. Max Ophüls hat ihren Alltag beschrieben: »Sie führte einen Haushalt mit ihrem früheren Gatten, von dem sie geschieden war; einem jetzigen Freund, den sie nicht heiraten wollte; einer siebzehnjährigen Tochter, über deren bürgerliche Lebensformen sie mit grotesker, eiserner, mütterlicher Strenge wachte.« Rosa Valetti hat laut Ophüls ein offenes Haus geführt, und in ihrer Wohnung muss ein derartiges Tohuwabohu von Theaterleuten geherrscht haben, dass sie einmal seufzte: »Mein Gott – wenn’s nur schon acht wäre – wenn der Vorhang aufgeht, ist man wenigstens allein.« [65]
Zu den literarischen Anregern Kästners zählt sehr wahrscheinlich auch der amerikanische Arzt Warner Fabian, der in seinem Roman
Flammende Jugend
die »Frau unsrer Zeit« darstellen wollte, und zwar »mit rückhaltloser Offenheit«. [66] Kästner kannte das recht brave Buch über voreheliche Sexualität und hat es in einer Rezension empfohlen. Es gab zur damaligen Zeit auch einige Romane über lesbische Liebe, die sich allerdings nicht durch offene erotische Schilderungen auszeichnen, sondern eher dem Kitschverdacht unterliegen (Christa Winsloes
Mädchen in Uniform
etwa, Film 1931 , Romanfassung 1934 ), oder Grete von Urbanitzkys Roman
Der wilde Garten
( 1927 ). In diesem ›Sittengemälde‹ gibt es einen homosexuellen Schüler, der sich umbringt; und es gibt, wie im
Fabian
, eine ›verworfene‹, hier aber auch geheimnisvolle und verlockende lesbische Bildhauerin. Noch näher steht dem
Fabian
(unter diesem Aspekt) der Roman
Freundinnen
( 1923 ), geschrieben von der jungen Schauspielerin Maximiliane Ackers. Sie hat nicht den süßlichen Stil ihrer Kolleginnen, schreibt eher burschikos und vertritt ihr Anliegen – Emanzipation auch der lesbischen Minderheit – offensiv. Wie im
Fabian
spielen auch in
Freundinnen
lesbische Bildhauerinnen als Vermittlerinnen eine kleine Rolle. [67] Die Protagonistin wird von einer Art Irene Moll in eine verfängliche Situation gebracht: Als sie im ehelichen Schlafzimmer verführt werden soll, kommt der Ehemann der Verführerin ins Bett: »Bitte, mein gnädiges Fräulein, lassen Sie sich nicht stören … ich, wenn Sie gestatten, werde inzwischen ein wenig schlafen.« Die Protagonistin ist durch ihn blockiert und beendet die Szene, sie fühlt sich zu Recht beobachtet, zur Enttäuschung des Ehemannes, der eben kein Dr. Felix Moll ist. »Kinder, Kinder, das ist Berlin W.«, [68] seufzt Ackers’ Heldin, auch angesichts von Voyeuren (wie Fabian, möchte man ergänzen): »Die ganzen Leute – es gibt nichts Taktloseres als die sogenannten Gebildeten – haben ja ihren Spaß daran, uns anzuglotzen.« [69] Im
Vorwort zur Neuauflage
( 1946 , Anhang 3 ) weist Kästner selbst noch auf einen weiteren Anreger hin, wenn er schreibt, der Roman hätte statt
Der Gang vor die Hunde
auch
Krankheit der Jugend
heißen können, der Titel eines »um 1930 oft gespielten Stücks« von Ferdinand Bruckner; im späteren Vorwort (Anhang 4 ) hat Kästner den Verweis wieder gestrichen.
Krankheit der Jugend
(Uraufführung 1926 , Erstdruck 1928 ) zeigt den Verfall der bürgerlichen Werte nach dem Ersten Weltkrieg als Kammerspiel, eine Gruppe junger Akademiker richtet sich zugrunde, zum Teil mit tödlichem Ausgang wie im
Fabian
. Sexuell wechselnde Verhältnisse und eine lesbische Beziehung spielen hier eine Rolle, aber auch weniger Einschlägiges wie Gift, Alkohol, ein Dienstmädchen, das in die Prostitution gezwungen wird.
Fabians Lamento über das »Sodom und Gomorrha« Berlin (zehntes Kapitel) ist also nicht neu; Kästners Beschreibung des »Sündenpfuhls« ist lediglich besonders deutlich und besonders konzentriert. Er lässt Fabian sogar ein bisschen stolz darauf sein, wie gut er sich in seinem Viertel im Berliner Westen auskennt:
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