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Der Gang vor die Hunde (German Edition)

Der Gang vor die Hunde (German Edition)

Titel: Der Gang vor die Hunde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Kästner
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Passage ist keine Übertreibung; Kriegskrüppel standen im Berlin der Zwanzigerjahre an vielen Straßenecken, und die beschriebenen Extremfälle kann Kästner in Ernst Friedrichs Foto- und Pamphletband
Krieg dem Kriege
( 1924 ) gesehen haben. Friedrich untertitelte die grausigen Fotografien, er berichtete von Kriegsopfern, die dreißig, sogar »weit über vierzig Operationen« erdulden mussten, die künstlich ernährt wurden und die »weltabgeschieden, fern von ihrer Familie (…) dahinleben in der Hoffnung, daß sie vielleicht nach Jahren ein menschliches Aussehen wieder erhalten«. [51]
    Der Roman enthält eine Fülle konkreter politischer Anspielungen, die sich mehrheitlich aus Fabians Zeitungslektüre ergeben und die Zeichen für den Abgrund sein sollen, auf den das Land zuhält. Inflation, Arbeitslosigkeit, die daraus resultierende Armut werden unentwegt thematisiert. Sicher hat Kästner seine Roman-Prophetie ex post ein wenig präzisiert; tatsächlich hat er keinen neuen Weltkrieg vorhergesagt, sondern einen Bürgerkrieg. Das beginnt mit der »verworrenen Lage« nach der Ministerpräsidentenwahl in Sachsen 1930 und den rebellierenden Starhembergjägern – einer österreichischen Faschistentruppe –, von denen Fabian im ersten Absatz des Romans liest. [52] Auch das eher komische Duell zwischen einem kommunistischen und einem nationalsozialistischen Arbeiter, die Labude und Fabian verarzten und ins Krankenhaus bringen, gehört in diesen Zusammenhang. Der Mord an Walther Rathenau wird erwähnt, Fabian geht im neunzehnten Kapitel an der »Straßenbiegung« (neunzehntes Kapitel) vorbei, an der dieser von den Mitgliedern einer nationalistischen Terrororganisation erschossen worden war, um die Bürgerkriegsstimmung anzuheizen. Fabian denkt an einen »nationalistischen« Schriftsteller (neunzehntes Kapitel), der ihm gegenüber den Mord gerechtfertigt habe; erst in den Nachkriegs-Werkausgaben wurde daraus »nationalsozialistisch«, so nahe das bei der rassistischen Invektive der Figur liegen mag. Im vorletzten Kapitel trifft Fabian Wenzkat, einen Bekannten aus der Schulzeit, der sich als Mitglied des paramilitärischen Stahlhelm-Bundes erweist. Fabian streitet sich nicht nur mit ihm, die beiden gehen auch zusammen ins Bordell, wo sich zeigt, dass der autoritäre Charakter Wenzkat auch sexuell eine autoritär-sadistische Neigung hat; auch die (im Erstdruck stark gekürzte) Bordell-Passage hat also politische Implikationen.
    Es ist zu vermuten, dass Curt Weller auch die Busfahrt von Labude und Fabian durch Berlin aufgrund politischer Bedenken gestrichen hat, nicht nur, um den Berliner Lokalpatrioten nicht zu nahe zu treten. Die Freunde spielen Komödie vor den Fahrgästen und bezeichnen die Universität als »Anstalt für schwachsinnige Kinder«, schließlich sei der »Schwachsinn hier sehr verbreitet« (viertes Kapitel). Diese Invektive passt gut zum Element der Gelehrtensatire des Romans. Aber die Freunde vergehen sich auch an nationalen Heiligtümern: Der Berliner Dom, der als Ruhestätte vieler Hohenzollern für das vergangene deutsche Kaiserreich steht, wird zur Hauptfeuerwache erklärt. Das Brandenburger Tor, nationales Symbol schlechthin, wird von Fabian als »Verkehrsturm« bezeichnet, dass der Wagenlenker »fast nichts an« hat, erklärt Fabian als »symbolisch«, »wegen der Steuern« (viertes Kapitel). Den Tiergarten bezeichnet er als das Tempelhofer Feld, das bis zu Beginn des 20 . Jahrhunderts preußisches Militärgelände war und also gleichfalls mit der vergangenen deutschen Größe zu tun hatte.
    Stimmt die Haltung von Autor und Figur beim Antimilitarismus und auch in vielen anderen Aspekten überein, gibt es doch auch deutliche Unterschiede. Fabian ist Geschichtspessimist, dem jedes Tun vergeblich, ja sinnlos vorkommt; es gibt kein System, in dem er funktionieren kann (fünftes Kapitel). In dem für die Erstausgabe zusätzlich geschriebenen Kapitel denkt er an Honoré Daumiers Blatt
Progrès. Les Escargots non sympathiques
( 1869 ), eine Allegorie des Fortschritts: »Daumier hatte auf dem Blatt Schnecken dargestellt, die hintereinander herkrochen, das war das Tempo der menschlichen Entwicklung. Aber die Schnecken krochen im Kreise! Und das war das Schlimmste.« (vgl. Liste der Varianten und Streichungen) Kästner hingegen hat zwar in vielen seiner Gedichte apokalyptische Stimmungen beschworen (
Die Entwicklung der Menschheit
,
Misanthropologie
usw.), doch er muss dabei von der Sinnhaftigkeit des

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