Der Gang vor die Hunde (German Edition)
Verfassens von Literatur überzeugt gewesen sein; anders hätte er einen Roman wie
Fabian
kaum schreiben können.
Zacharias, ein »Bekannter« (fünfzehntes Kapitel) Fabians, Mitarbeiter in einem großen Zeitungsverlag, hat keine Stelle für Fabian; aber er hat konkrete politische Auffassungen. Auch die sind sicher mit Vorsicht zu nehmen, immerhin ist in der Ausgabe letzter Hand von einem »eitlen, verlogenen Menschen« die Rede ( GE , S. 171 ). Zacharias verficht die »Behauptung von H. G. Wells, daß das Wachstum der christlichen Kirche nicht zuletzt auf geschickte Propaganda zurückzuführen sei«, und fordert mit Wells, »daß es an der Zeit sei, die Reklame nicht länger auf die Steigerung des Konsums von Seife und Kaugummi zu beschränken, sondern sie endlich ausreichend in den Dienst von Idealen zu stellen« (fünfzehntes Kapitel). Fabian zweifelt an diesen Theorien, »die Erziehbarkeit des Menschengeschlechts sei eine fragwürdige These« (fünfzehntes Kapitel). Erich Kästner hingegen zweifelte keineswegs an ihnen. Herbert George Wells dürfte einer der wichtigsten Schriftsteller für seine politischen Auffassungen in dieser Zeit gewesen sein. Kästner schrieb hymnische Rezensionen über
Menschen, Göttern gleich
( 1923 , dt. 1927 ) und
Die Welt des William Clissold
( 1926 , dt. 1927 ), die klassische Dystopie
The Time Machine
( 1895 ) steht warnend im Hintergrund des
Fabian
. [53] Kästner rühmte Wells’ Weltanschauung und seinen Weltanschauungsroman, in dem der sechzigjährige Konzernchef William Clissold seine Ansichten zu Religion und Reklame, Sexualität und Ehe, Marxismus und Kapitalismus sowie der Rettung der Welt verbreiten darf. Kästner erklärte den Roman zum »gescheiteste[n] Buch der letzten Jahre überhaupt«. [54] Bertolt Brecht fand dagegen, es handle sich um eine »monströse Sammlung von pseudophilosophischen Gemeinplätzen in verlogen objektivem Stil«. [55] Speziell zu Wells’ Propaganda-Ideen – »die Tempel der Welt als Reklame unseres Herrgotts« [56] – hat Kästner einen eigenen Artikel geschrieben,
Reklame und Weltrevolution
( 1930 ), der großenteils aus Zitaten aus Wells’ Roman besteht, insbesondere aus Sätzen von Clissolds Bruder Dickon, der im Buch eine der ersten großen britischen Werbeagenturen gegründet hat. Kästner wie Dickon Clissold sind sich freilich über die Möglichkeiten und Gefahren von Propaganda durchaus im Klaren gewesen, die im ›Dritten Reich‹ denn auch zu einem perfiden Instrument wurde.
Der Chemiefabrikant William Clissold plädiert in seinen Aufzeichnungen für einen Zusammenschluss der wirtschaftlich Mächtigen der Welt. Eine »Elite ernster und wohlunterrichteter Geister« werde heranreifen, die »wahre Revolution« werde von einer »kleinen Minderheit intelligenter Männer und Frauen gemacht werden«. Eine aufgewiegelte Menge könne wohl »das bestehende umstoßen, doch etwas Neues schaffen kann sie nicht«. [57] Nur die Tatkraft der »Wissenschaftler, der geistigen Arbeiter, der führenden Männer in der produktiven Industrie, der Männer, die den Geld- und Kreditumlauf beherrschen, der Zeitungsleiter und der Politiker« [58] reiche aus, um mit Billigung der Arbeiter Regierungen und Staaten abzuschaffen und eine vernünftige Weltrepublik zu errichten. Eine solche »sozial gefärbte (…) Revolution der kapitalistisch und geistig führenden Minderheit« könnte gelingen; sie müsse aber »ihre Interessen mit denen der Arbeiterschaft identifizieren«. [59] Wells hatte, wie sein jüngster deutscher Biograf Elmar Schenkel mitteilt, »bei allem demokratischen Denken, immer etwas Diktatorisches«, mindestens Rechthaberisches, da weiß einer genau, wo es langgehen soll. Eine prozessuale Vorstellung von Politik – zu der ein Abwägen von Interessen verschiedener Gruppen, die Kompromissbildung, das Finden zustimmungsfähigen Handelns gehören würde –, eine solche genuin demokratische Vorstellung gibt es bei Wells nicht, und es gibt sie auch im
Fabian
nicht so recht, bei Kästner am ehesten in den Kinderbüchern, wo etwa die Jungenbande in
Emil und die Detektive
untereinander verhandelt, was die nächsten Schritte sind und ob es moralisch vertretbar sei, vom Dieb das Geld zurückzuklauen. Vor diesem Wells’schen Hintergrund stellte Kästner also seine Forderungen an tatsächliche und vielleicht künftige Millionäre, seine Stoßseufzer wie in dem Gedicht
Ansprache an Millionäre
, bevor eine Revolution den Reichen ein gewaltsames Ende
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