Der Gang vor die Hunde (German Edition)
machen würde: [60]
Ihr sollt ja gar nicht aus Güte handeln!
Ihr seid nicht gut. Und auch sie sind’s nicht.
Nicht euch, aber die Welt zu verwandeln,
ist eure Pflicht! […]
Macht Steppen fruchtbar. Befehlt. Legt Gleise.
Organisiert den Umbau der Welt!
Ach, gäbe es nur ein Dutzend Weise
Mit sehr viel Geld …
Die Forderung nach individueller Hilfe richtete sich nicht nur an Millionäre. Kästner verhielt sich im Rahmen seiner Möglichkeiten selbst altruistisch, genauso seine Figur Jakob Fabian. Der lädt einen Bettler zum Essen ein, lässt den Stadtstreicher Kollrepp auf seinem Sofa übernachten, bezahlt einem zehnjährigen Mädchen den Aschenbecher, den sie ihrem Vater schenken will, und so fort; es gibt eben nichts Gutes, außer man tut es.
Wells’/Clissolds politische Ziele sind stark von denen der
Fabian Society
gefärbt, einer 1883 gegründeten spezifisch britisch-gemäßigten Vereinigung: »umsichtig organisierte Befriedigung der wesentlichsten Bedürfnisse der Menschheit, systematische Verwertung der Kräfte, die vorläufig im Kampfe ums nackte Dasein vergeudet werden, vollständige Unterbindung der Spekulation, Einschränkung des Gewinns, Abschaffung jedweder unlauteren Profitmacherei«. [61] Die Fabier waren eine bürgerlich-elitäre sozialistische Gesellschaft, zu deren Vorstellungen sich die Labour Party noch bis zu Tony Blairs Zeiten bekannte. In ihrer Anfangsphase verlangten die Fabier vor allem eine moralische und kulturelle, weniger eine ökonomische Neuordnung der Gesellschaft. Sie forderten auch gleiche politische Rechte für beide Geschlechter, weil, nach einem frühen Fabier-Manifest von Bernard Shaw, »die Männer zum Schutz gegen die Frauen keine besonderen politischen Vorrechte mehr brauchten«. [62] Später propagierten sie eine eklektizistische und pragmatische soziale Theorie und ein vages Ideal sozialer Gleichheit. Bernard Shaw und seine Mitstreiter entwickelten eine Theorie des »demokratischen Kollektivismus« und arbeiteten auf eine »Neukonstruktion der Sozialordnung« hin. [63] Anders als Wells’ Liberal-Aristokratismus stellten sich die Fabier einen demokratisch und evolutionär hervorgebrachten Fortschritt durch allmähliche Reformen vor. Ihr Name war Programm: Quintus Fabius Cunctator war ein römischer Konsul und Diktator, der nur zögernd und hinhaltend Truppen einsetzte. Jakob Fabians Name dürfte ebenfalls dieser Provenienz sein – ein Zauderer, mit dem, noch einmal sei’s gesagt, Kästner sich in politischen Dingen weniger identifizierte als etwa mit dem
Clissold
-Roman, den er Menschen wie Fabian beinah nötigend empfahl: Wer, »politisch betrachtet, zur Hoffnungslosigkeit neigt und nach Rettung ausblickt, ohne sie zu finden, […] für den ist das neue Buch von Wells eine Lektüre von unerhörter Bedeutung!« [64] . Es versteht sich, dass Kästner nicht mit den Ansichten seiner Figur Fabian übereinstimmt; im Unterschied zu diesem hat er nicht gezögert, einen Roman zu schreiben und zu veröffentlichen. Damit hat sich Kästner entschieden in den öffentlichen Diskurs eingemischt, statt nur im Privatraum zu moralisieren – die Leser sollten aufgefordert werden, schwimmen zu lernen und sich gerade nicht so zu verhalten wie der Protagonist, obwohl es sicher nicht schadet, sich gegenüber den Menschen seiner unmittelbaren Umgebung ähnlich hilfreich zu verhalten wie Fabian vor seiner letzten Tat, seinem letzten Fehler.
Sittengeschichte der späten Weimarer Republik
Die sexuelle Offenheit des
Fabian
rief einige Empörung hervor; die Provokation war offensichtlich erfolgreich, wenn es denn eine solche hätte sein sollen. Noch Ende der Sechzigerjahre zeigte sich eine Handelsschülerin, die ein Referat über den Roman halten sollte, schockiert und schrieb Kästner in diesem Tenor. Der antwortete ihr: »Ihr spezieller Kummer darüber, daß einer der beiden Helden, nämlich Dr. Jakob Fabian, allzu viele horizontale Erlebnisse habe, scheint mir doch wohl etwas übertrieben.« Er empfiehlt ihr, »die Zahl seiner Bettbekanntschaften« nachzuzählen, sehr »ergebnisreich« werde der Test nicht ausfallen. Und er erklärt ihr den Kontext: »Etwas ganz anderes ist: daß es in dem Buche, mitten im überhitzten Berlin der letzten zwanzig Jahre, auch erotisch ziemlich drunter und drüber geht. Dazu wäre zu bemerken, daß es damals auch politisch und wirtschaftlich drunter und drüber ging und daß alle diese Verwirrungen der gleiche Ausdruck für die damalige
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